Frapan, Ilse [i. e. Ilse Akunian]: Flügel auf! Novellen. Berlin, 1895.geradezu unheimlich leer an Studenten war, hinter den Büchern hocken, holte viel Versäumtes nach, ward aber aus Mangel an freundlicher Ansprache ganz öde und in sich gekehrt und fiel von einem "Moralischen" in den anderen. Da er nun infolge dessen oft mit gefalteter Stirn, nachdenklichen Mundwinkeln und etwas gebeugter Haltung der überschlanken Gestalt einherging, setzte sich in dem Hause, das sich ganz heimlich hinter dicht zusammengezogenen Gardinen und durch Gucklöcher in den Flurthüren, mit ihm beschäftigte, die Meinung fest, daß "Frau Doktor Röslin's Student" im dritten Stock etwas Rechtes und Vornehmes sein müsse, gar zu eifrig und vielleicht auch ein richtiger Streber, nicht recht jung und duckmäuserhaft, aber jedenfalls, ein solventer Zahler. Diese hohe Meinung bekam das erste Loch nach fast zwei Monaten, als an einem wundermilden Aprilabend, voller Mondschein und Aprikosenblüthenduft, der Einsame seine lang vergessene Geige dem bestaubten Kasten entnahm und bei offenen Fenstern in einem Ruck bis elf Uhr musicirte. Seit er mit Anneli gebrochen, hatte er keine Saite mehr angerührt. Ach, sie war ja nur ein Puppengehirnchen gewesen, aber wie goldig glänzten die Locken auf dem dummen runden Köpfchen, und wie verschmitzt hatte sie ihm zulächeln können, während sie mit der Großmutter die häuslichsten Dinge verhandelte. Und wie nett sie sich auf allerlei Zeichensprache geradezu unheimlich leer an Studenten war, hinter den Büchern hocken, holte viel Versäumtes nach, ward aber aus Mangel an freundlicher Ansprache ganz öde und in sich gekehrt und fiel von einem „Moralischen“ in den anderen. Da er nun infolge dessen oft mit gefalteter Stirn, nachdenklichen Mundwinkeln und etwas gebeugter Haltung der überschlanken Gestalt einherging, setzte sich in dem Hause, das sich ganz heimlich hinter dicht zusammengezogenen Gardinen und durch Gucklöcher in den Flurthüren, mit ihm beschäftigte, die Meinung fest, daß „Frau Doktor Röslin’s Student“ im dritten Stock etwas Rechtes und Vornehmes sein müsse, gar zu eifrig und vielleicht auch ein richtiger Streber, nicht recht jung und duckmäuserhaft, aber jedenfalls, ein solventer Zahler. Diese hohe Meinung bekam das erste Loch nach fast zwei Monaten, als an einem wundermilden Aprilabend, voller Mondschein und Aprikosenblüthenduft, der Einsame seine lang vergessene Geige dem bestaubten Kasten entnahm und bei offenen Fenstern in einem Ruck bis elf Uhr musicirte. Seit er mit Anneli gebrochen, hatte er keine Saite mehr angerührt. Ach, sie war ja nur ein Puppengehirnchen gewesen, aber wie goldig glänzten die Locken auf dem dummen runden Köpfchen, und wie verschmitzt hatte sie ihm zulächeln können, während sie mit der Großmutter die häuslichsten Dinge verhandelte. Und wie nett sie sich auf allerlei Zeichensprache <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0015" n="7"/> geradezu unheimlich leer an Studenten war, hinter den Büchern hocken, holte viel Versäumtes nach, ward aber aus Mangel an freundlicher Ansprache ganz öde und in sich gekehrt und fiel von einem „Moralischen“ in den anderen. Da er nun infolge dessen oft mit gefalteter Stirn, nachdenklichen Mundwinkeln und etwas gebeugter Haltung der überschlanken Gestalt einherging, setzte sich in dem Hause, das sich ganz heimlich hinter dicht zusammengezogenen Gardinen und durch Gucklöcher in den Flurthüren, mit ihm beschäftigte, die Meinung fest, daß „Frau Doktor Röslin’s Student“ im dritten Stock etwas Rechtes und Vornehmes sein müsse, gar zu eifrig und vielleicht auch ein richtiger Streber, nicht recht jung und duckmäuserhaft, aber jedenfalls, ein solventer Zahler. Diese hohe Meinung bekam das erste Loch nach fast zwei Monaten, als an einem wundermilden Aprilabend, voller Mondschein und Aprikosenblüthenduft, der Einsame seine lang vergessene Geige dem bestaubten Kasten entnahm und bei offenen Fenstern in einem Ruck bis elf Uhr musicirte. Seit er mit Anneli gebrochen, hatte er keine Saite mehr angerührt. Ach, sie war ja nur ein Puppengehirnchen gewesen, aber wie goldig glänzten die Locken auf dem dummen runden Köpfchen, und wie verschmitzt hatte sie ihm zulächeln können, während sie mit der Großmutter die häuslichsten Dinge verhandelte. Und wie nett sie sich auf allerlei Zeichensprache </p> </div> </body> </text> </TEI> [7/0015]
geradezu unheimlich leer an Studenten war, hinter den Büchern hocken, holte viel Versäumtes nach, ward aber aus Mangel an freundlicher Ansprache ganz öde und in sich gekehrt und fiel von einem „Moralischen“ in den anderen. Da er nun infolge dessen oft mit gefalteter Stirn, nachdenklichen Mundwinkeln und etwas gebeugter Haltung der überschlanken Gestalt einherging, setzte sich in dem Hause, das sich ganz heimlich hinter dicht zusammengezogenen Gardinen und durch Gucklöcher in den Flurthüren, mit ihm beschäftigte, die Meinung fest, daß „Frau Doktor Röslin’s Student“ im dritten Stock etwas Rechtes und Vornehmes sein müsse, gar zu eifrig und vielleicht auch ein richtiger Streber, nicht recht jung und duckmäuserhaft, aber jedenfalls, ein solventer Zahler. Diese hohe Meinung bekam das erste Loch nach fast zwei Monaten, als an einem wundermilden Aprilabend, voller Mondschein und Aprikosenblüthenduft, der Einsame seine lang vergessene Geige dem bestaubten Kasten entnahm und bei offenen Fenstern in einem Ruck bis elf Uhr musicirte. Seit er mit Anneli gebrochen, hatte er keine Saite mehr angerührt. Ach, sie war ja nur ein Puppengehirnchen gewesen, aber wie goldig glänzten die Locken auf dem dummen runden Köpfchen, und wie verschmitzt hatte sie ihm zulächeln können, während sie mit der Großmutter die häuslichsten Dinge verhandelte. Und wie nett sie sich auf allerlei Zeichensprache
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Zitationshilfe: | Frapan, Ilse [i. e. Ilse Akunian]: Flügel auf! Novellen. Berlin, 1895, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/frapan_fluegel_1895/15>, abgerufen am 23.07.2024. |