mitten der nun menschenleeren, unfertigen Straße; es war schwer, in dem Zwielicht auf dem holprigen Boden nicht fehl zu treten. Als er vor dem Gitter stand, brauchte er nicht zu rufen, sie hatte ihn auch kommen sehen und drängte ihre ganze kräftige Gestalt gegen die Stäbe, so daß er ihren weißen Schurz hätte erfassen können. "Michel, bist da? Bist gesund?" rief sie hastig, "ach, hab' ich Angst ausg'standen!" Und sie streckte die Hand durchs Gitter und drückte seine freie Rechte, wie sie's nie gethan.
"Moni gelt. Du kommscht heraus, oder laßt mi ei'?" bat Michel.
Das Mädchen riß einen Schlüssel aus der Tasche der Schürze und flüsterte zärtlich: "Jetzt, wo Du mir so brav beig'standen bist, kann ich Dir nie nix mehr abschlagen! Der gnä' Herr hat seine Hosen zum Ausklopfen hergethan, da ist der Schlüssel heraus¬ g'fallen, g'rad' seh ich ihn liegen."
Sie steckte ihn Michel durch die Stäbe zu: "Schließ' auf und komm' herein, da ist jetzt noch besserer Schatten als am Nachmittag, gelt?"
Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Er lehnte seine Waffe an einen dicken Baumstamm, dann ließ er sich von Monika an der Hand zu einer Bank führen, die verborgen von den hängenden Aesten einer Schierlingstanne im Gebüsch stand. Nur ein Mond¬ strahl fiel dazwischen und streifte Monikas schönes,
mitten der nun menſchenleeren, unfertigen Straße; es war ſchwer, in dem Zwielicht auf dem holprigen Boden nicht fehl zu treten. Als er vor dem Gitter ſtand, brauchte er nicht zu rufen, ſie hatte ihn auch kommen ſehen und drängte ihre ganze kräftige Geſtalt gegen die Stäbe, ſo daß er ihren weißen Schurz hätte erfaſſen können. „Michel, biſt da? Biſt geſund?“ rief ſie haſtig, „ach, hab' ich Angſt ausg'ſtanden!“ Und ſie ſtreckte die Hand durchs Gitter und drückte ſeine freie Rechte, wie ſie's nie gethan.
„Moni gelt. Du kommſcht heraus, oder laßt mi ei'?“ bat Michel.
Das Mädchen riß einen Schlüſſel aus der Taſche der Schürze und flüſterte zärtlich: „Jetzt, wo Du mir ſo brav beig'ſtanden biſt, kann ich Dir nie nix mehr abſchlagen! Der gnä' Herr hat ſeine Hoſen zum Ausklopfen hergethan, da iſt der Schlüſſel heraus¬ g'fallen, g'rad' ſeh ich ihn liegen.“
Sie ſteckte ihn Michel durch die Stäbe zu: „Schließ' auf und komm' herein, da iſt jetzt noch beſſerer Schatten als am Nachmittag, gelt?“
Das ließ er ſich nicht zweimal ſagen. Er lehnte ſeine Waffe an einen dicken Baumſtamm, dann ließ er ſich von Monika an der Hand zu einer Bank führen, die verborgen von den hängenden Aeſten einer Schierlingstanne im Gebüſch ſtand. Nur ein Mond¬ ſtrahl fiel dazwiſchen und ſtreifte Monikas ſchönes,
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mitten der nun menſchenleeren, unfertigen Straße;
es war ſchwer, in dem Zwielicht auf dem holprigen
Boden nicht fehl zu treten. Als er vor dem Gitter
ſtand, brauchte er nicht zu rufen, ſie hatte ihn auch
kommen ſehen und drängte ihre ganze kräftige Geſtalt
gegen die Stäbe, ſo daß er ihren weißen Schurz hätte
erfaſſen können. „Michel, biſt da? Biſt geſund?“
rief ſie haſtig, „ach, hab' ich Angſt ausg'ſtanden!“
Und ſie ſtreckte die Hand durchs Gitter und drückte
ſeine freie Rechte, wie ſie's nie gethan.
„Moni gelt. Du kommſcht heraus, oder laßt mi
ei'?“ bat Michel.
Das Mädchen riß einen Schlüſſel aus der Taſche
der Schürze und flüſterte zärtlich: „Jetzt, wo Du mir
ſo brav beig'ſtanden biſt, kann ich Dir nie nix mehr
abſchlagen! Der gnä' Herr hat ſeine Hoſen zum
Ausklopfen hergethan, da iſt der Schlüſſel heraus¬
g'fallen, g'rad' ſeh ich ihn liegen.“
Sie ſteckte ihn Michel durch die Stäbe zu:
„Schließ' auf und komm' herein, da iſt jetzt noch
beſſerer Schatten als am Nachmittag, gelt?“
Das ließ er ſich nicht zweimal ſagen. Er lehnte
ſeine Waffe an einen dicken Baumſtamm, dann ließ
er ſich von Monika an der Hand zu einer Bank
führen, die verborgen von den hängenden Aeſten einer
Schierlingstanne im Gebüſch ſtand. Nur ein Mond¬
ſtrahl fiel dazwiſchen und ſtreifte Monikas ſchönes,
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Frapan, Ilse: Bittersüß. Novellen. Berlin, 1891, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/frapan_bittersuess_1891/190>, abgerufen am 16.02.2025.
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