sein Leid vergessen, doch liebte er auch sie mit Angst; die schöne Sicherheit der Jugend war ihm erschüttert; seit er das Augenlicht verloren, schien ihm aller Be¬ sitz vergänglich. -- Sobald er Mariannens Stimme nicht hörte, überfiel ihn der Schrecken: sie ist fort; so oft er in der Nacht erwachte, rief er angstvoll ihren Namen, daß sie oft zitternd aus dem Schlafe fuhr und horchte, und wenn er zu rufen nicht auf¬ hörte, an seine Kammer schlich und ihn beruhigte, wie ein fieberndes Kind.
Sie hatte eine bescheidene Wohnung gefunden; der See war nah, und schön waren die Stunden am Wasser. Alfred lag auf dem Boden ausgestreckt in der würzig duftenden Minze; Marianne saß auf einem Feldstühlchen neben ihm, vorlesend oder plau¬ dernd und Alfred mit ihren Augen sehen lassend, wie sie es nannten. Er sah dadurch die Form der wal¬ digen Ufer, den spitzen Kirchthurm des Dorfes, die Farbe des Wassers auf den perlmutterglänzenden Steinen, das Funkengeblinzel auf der Oberfläche, wenn die Sonne hoch stand, die gelben Schwertlilien im windgeschwungenen Schilf, die munteren Wasser¬ staare im weißen Wämschen, braunen Röckchen, die nicht nur mit den Schwalben um die Wette über die Wellen streiften, nein, auch tief hineintauchten und auf dem Grunde dahinliefen; endlich das sonnver¬ brannte blonde Rudermädchen, Hoffischers Magd mit
ſein Leid vergeſſen, doch liebte er auch ſie mit Angſt; die ſchöne Sicherheit der Jugend war ihm erſchüttert; ſeit er das Augenlicht verloren, ſchien ihm aller Be¬ ſitz vergänglich. — Sobald er Mariannens Stimme nicht hörte, überfiel ihn der Schrecken: ſie iſt fort; ſo oft er in der Nacht erwachte, rief er angſtvoll ihren Namen, daß ſie oft zitternd aus dem Schlafe fuhr und horchte, und wenn er zu rufen nicht auf¬ hörte, an ſeine Kammer ſchlich und ihn beruhigte, wie ein fieberndes Kind.
Sie hatte eine beſcheidene Wohnung gefunden; der See war nah, und ſchön waren die Stunden am Waſſer. Alfred lag auf dem Boden ausgeſtreckt in der würzig duftenden Minze; Marianne ſaß auf einem Feldſtühlchen neben ihm, vorleſend oder plau¬ dernd und Alfred mit ihren Augen ſehen laſſend, wie ſie es nannten. Er ſah dadurch die Form der wal¬ digen Ufer, den ſpitzen Kirchthurm des Dorfes, die Farbe des Waſſers auf den perlmutterglänzenden Steinen, das Funkengeblinzel auf der Oberfläche, wenn die Sonne hoch ſtand, die gelben Schwertlilien im windgeſchwungenen Schilf, die munteren Waſſer¬ ſtaare im weißen Wämschen, braunen Röckchen, die nicht nur mit den Schwalben um die Wette über die Wellen ſtreiften, nein, auch tief hineintauchten und auf dem Grunde dahinliefen; endlich das ſonnver¬ brannte blonde Rudermädchen, Hoffiſchers Magd mit
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ſein Leid vergeſſen, doch liebte er auch ſie mit Angſt;
die ſchöne Sicherheit der Jugend war ihm erſchüttert;
ſeit er das Augenlicht verloren, ſchien ihm aller Be¬
ſitz vergänglich. — Sobald er Mariannens Stimme
nicht hörte, überfiel ihn der Schrecken: ſie iſt fort;
ſo oft er in der Nacht erwachte, rief er angſtvoll
ihren Namen, daß ſie oft zitternd aus dem Schlafe
fuhr und horchte, und wenn er zu rufen nicht auf¬
hörte, an ſeine Kammer ſchlich und ihn beruhigte,
wie ein fieberndes Kind.
Sie hatte eine beſcheidene Wohnung gefunden;
der See war nah, und ſchön waren die Stunden
am Waſſer. Alfred lag auf dem Boden ausgeſtreckt
in der würzig duftenden Minze; Marianne ſaß auf
einem Feldſtühlchen neben ihm, vorleſend oder plau¬
dernd und Alfred mit ihren Augen ſehen laſſend, wie
ſie es nannten. Er ſah dadurch die Form der wal¬
digen Ufer, den ſpitzen Kirchthurm des Dorfes, die
Farbe des Waſſers auf den perlmutterglänzenden
Steinen, das Funkengeblinzel auf der Oberfläche,
wenn die Sonne hoch ſtand, die gelben Schwertlilien
im windgeſchwungenen Schilf, die munteren Waſſer¬
ſtaare im weißen Wämschen, braunen Röckchen, die
nicht nur mit den Schwalben um die Wette über die
Wellen ſtreiften, nein, auch tief hineintauchten und
auf dem Grunde dahinliefen; endlich das ſonnver¬
brannte blonde Rudermädchen, Hoffiſchers Magd mit
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Frapan, Ilse: Bittersüß. Novellen. Berlin, 1891, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/frapan_bittersuess_1891/124>, abgerufen am 15.08.2024.
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