Er konnte den erstaunten Blick nicht sehen, den der Doktor auf ihn warf, doch hörte er den unter¬ drückten Ausruf: "Nicht? Schade dafür! Schade für Sie Beide," und blieb still und beschämt sitzen.
Die Empfindung, daß er zum zweiten Mal einen Treubruch begangen, drückte ihn fast zu Boden. Aber dieses Mal wollte er es gut machen, ohne Besinnen, an der feige Verleugneten selbst, wollte, sowie sie ein¬ trete, fragen -- da kam sie schon.
"Marianne, einzig Geliebte," rief er ihr ent¬ gegen, "sag' mir in diesem Augenblick, daß Du mein Weib werden willst!"
Er konnte nicht sehen, wie sie sich am Thür¬ pfosten festhielt und mit weitaufgerissenen Augen in seinem heißen, sonderbar bewegten Gesicht forschte. Doch mußte sie etwas darin nicht gefunden haben, denn sie kam langsam näher, legte ihre kühle Hand auf die rothe Schläfennarbe, unter der es zuckte und hämmerte, und sagte ruhig: "Wenn Du nicht gesund bist, so können wir nicht nach Schlier¬ see und müssen noch warten."
Einen Augenblick schwieg er betroffen, dann schrie er in herzzerreißendem Ton: "Ich will nicht länger blind sein! ich will Dein Gesicht sehen! ich will meine Augen wieder haben, meine Augen! meine Augen!"
Er konnte den erſtaunten Blick nicht ſehen, den der Doktor auf ihn warf, doch hörte er den unter¬ drückten Ausruf: „Nicht? Schade dafür! Schade für Sie Beide,“ und blieb ſtill und beſchämt ſitzen.
Die Empfindung, daß er zum zweiten Mal einen Treubruch begangen, drückte ihn faſt zu Boden. Aber dieſes Mal wollte er es gut machen, ohne Beſinnen, an der feige Verleugneten ſelbſt, wollte, ſowie ſie ein¬ trete, fragen — da kam ſie ſchon.
„Marianne, einzig Geliebte,“ rief er ihr ent¬ gegen, „ſag' mir in dieſem Augenblick, daß Du mein Weib werden willſt!“
Er konnte nicht ſehen, wie ſie ſich am Thür¬ pfoſten feſthielt und mit weitaufgeriſſenen Augen in ſeinem heißen, ſonderbar bewegten Geſicht forſchte. Doch mußte ſie etwas darin nicht gefunden haben, denn ſie kam langſam näher, legte ihre kühle Hand auf die rothe Schläfennarbe, unter der es zuckte und hämmerte, und ſagte ruhig: „Wenn Du nicht geſund biſt, ſo können wir nicht nach Schlier¬ ſee und müſſen noch warten.“
Einen Augenblick ſchwieg er betroffen, dann ſchrie er in herzzerreißendem Ton: „Ich will nicht länger blind ſein! ich will Dein Geſicht ſehen! ich will meine Augen wieder haben, meine Augen! meine Augen!“
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Er konnte den erſtaunten Blick nicht ſehen, den
der Doktor auf ihn warf, doch hörte er den unter¬
drückten Ausruf: „Nicht? Schade dafür! Schade
für Sie Beide,“ und blieb ſtill und beſchämt ſitzen.
Die Empfindung, daß er zum zweiten Mal einen
Treubruch begangen, drückte ihn faſt zu Boden. Aber
dieſes Mal wollte er es gut machen, ohne Beſinnen,
an der feige Verleugneten ſelbſt, wollte, ſowie ſie ein¬
trete, fragen — da kam ſie ſchon.
„Marianne, einzig Geliebte,“ rief er ihr ent¬
gegen, „ſag' mir in dieſem Augenblick, daß Du mein
Weib werden willſt!“
Er konnte nicht ſehen, wie ſie ſich am Thür¬
pfoſten feſthielt und mit weitaufgeriſſenen Augen
in ſeinem heißen, ſonderbar bewegten Geſicht forſchte.
Doch mußte ſie etwas darin nicht gefunden haben,
denn ſie kam langſam näher, legte ihre kühle
Hand auf die rothe Schläfennarbe, unter der es
zuckte und hämmerte, und ſagte ruhig: „Wenn Du
nicht geſund biſt, ſo können wir nicht nach Schlier¬
ſee und müſſen noch warten.“
Einen Augenblick ſchwieg er betroffen, dann
ſchrie er in herzzerreißendem Ton: „Ich will nicht
länger blind ſein! ich will Dein Geſicht ſehen! ich
will meine Augen wieder haben, meine Augen!
meine Augen!“
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Frapan, Ilse: Bittersüß. Novellen. Berlin, 1891, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/frapan_bittersuess_1891/121>, abgerufen am 16.08.2024.
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