Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

Dictatur wenig verhüllte. Möglich allerdings, daß
das "halbschürige Lamm, die Dörte" für des kräfti¬
gen Knaben Ernährung sich zu zart erwies und sehr
wahrscheinlich, daß ihre von jeher unliebsame Gegen¬
wart der Alten auf die Dauer lästig fiel. Ganz ge¬
wiß aber war, daß der unversöhnliche Schellenunter
von Neuem seine Streiche spielte. Sie ahnte ja
nicht, daß er im verwichenen Sommer ihre Orakel¬
weisheit bereits wahr gemacht hatte. Er lauerte noch
immer, und jetzt doppelt bedrohlich, unter der Kappe
der anrüchigen Dirne, zu deren Patronin ihr Fräu¬
lein sich erhoben hatte, und so ruhte sie denn auch
nicht, bis sie die Gefährliche außerhalb des Weichbil¬
des sah, das sie, seitdem sie selbst sich darin nieder¬
gelassen hatte, für ihres Fräuleins eigentliche Hei¬
math hielt.

Dorothee aber, wie sie die Ernährung ihres Kin¬
des einer Ziege und seine Wartung einem despotischen
Willen überlassen mußte, wie sie müßig in dem dürf¬
tigen Waldhause unter dem schnöden Gebahren ihrer
Wirthin gebannt saß, da merkte ich gar wohl, daß
das Herz sich im Stillen nach der Freiheit und dem
Behagen des eigenen Heimwesens zu sehnen begann.
Sie langweilte sich, sie wurde unruhig. "Was soll

Dictatur wenig verhüllte. Möglich allerdings, daß
das „halbſchürige Lamm, die Dörte“ für des kräfti¬
gen Knaben Ernährung ſich zu zart erwies und ſehr
wahrſcheinlich, daß ihre von jeher unliebſame Gegen¬
wart der Alten auf die Dauer läſtig fiel. Ganz ge¬
wiß aber war, daß der unverſöhnliche Schellenunter
von Neuem ſeine Streiche ſpielte. Sie ahnte ja
nicht, daß er im verwichenen Sommer ihre Orakel¬
weisheit bereits wahr gemacht hatte. Er lauerte noch
immer, und jetzt doppelt bedrohlich, unter der Kappe
der anrüchigen Dirne, zu deren Patronin ihr Fräu¬
lein ſich erhoben hatte, und ſo ruhte ſie denn auch
nicht, bis ſie die Gefährliche außerhalb des Weichbil¬
des ſah, das ſie, ſeitdem ſie ſelbſt ſich darin nieder¬
gelaſſen hatte, für ihres Fräuleins eigentliche Hei¬
math hielt.

Dorothee aber, wie ſie die Ernährung ihres Kin¬
des einer Ziege und ſeine Wartung einem deſpotiſchen
Willen überlaſſen mußte, wie ſie müßig in dem dürf¬
tigen Waldhauſe unter dem ſchnöden Gebahren ihrer
Wirthin gebannt ſaß, da merkte ich gar wohl, daß
das Herz ſich im Stillen nach der Freiheit und dem
Behagen des eigenen Heimweſens zu ſehnen begann.
Sie langweilte ſich, ſie wurde unruhig. „Was ſoll

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0040" n="36"/>
Dictatur wenig verhüllte. Möglich allerdings, daß<lb/>
das &#x201E;halb&#x017F;chürige Lamm, die Dörte&#x201C; für des kräfti¬<lb/>
gen Knaben Ernährung &#x017F;ich zu zart erwies und &#x017F;ehr<lb/>
wahr&#x017F;cheinlich, daß ihre von jeher unlieb&#x017F;ame Gegen¬<lb/>
wart der Alten auf die Dauer lä&#x017F;tig fiel. Ganz ge¬<lb/>
wiß aber war, daß der unver&#x017F;öhnliche Schellenunter<lb/>
von Neuem &#x017F;eine Streiche &#x017F;pielte. Sie ahnte ja<lb/>
nicht, daß er im verwichenen Sommer ihre Orakel¬<lb/>
weisheit bereits wahr gemacht hatte. Er lauerte noch<lb/>
immer, und jetzt doppelt bedrohlich, unter der Kappe<lb/>
der anrüchigen Dirne, zu deren Patronin ihr Fräu¬<lb/>
lein &#x017F;ich erhoben hatte, und &#x017F;o ruhte &#x017F;ie denn auch<lb/>
nicht, bis &#x017F;ie die Gefährliche außerhalb des Weichbil¬<lb/>
des &#x017F;ah, das &#x017F;ie, &#x017F;eitdem &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ich darin nieder¬<lb/>
gela&#x017F;&#x017F;en hatte, für ihres Fräuleins eigentliche Hei¬<lb/>
math hielt.</p><lb/>
        <p>Dorothee aber, wie &#x017F;ie die Ernährung ihres Kin¬<lb/>
des einer Ziege und &#x017F;eine Wartung einem de&#x017F;poti&#x017F;chen<lb/>
Willen überla&#x017F;&#x017F;en mußte, wie &#x017F;ie müßig in dem dürf¬<lb/>
tigen Waldhau&#x017F;e unter dem &#x017F;chnöden Gebahren ihrer<lb/>
Wirthin gebannt &#x017F;aß, da merkte ich gar wohl, daß<lb/>
das Herz &#x017F;ich im Stillen nach der Freiheit und dem<lb/>
Behagen des eigenen Heimwe&#x017F;ens zu &#x017F;ehnen begann.<lb/>
Sie langweilte &#x017F;ich, &#x017F;ie wurde unruhig. &#x201E;Was &#x017F;oll<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[36/0040] Dictatur wenig verhüllte. Möglich allerdings, daß das „halbſchürige Lamm, die Dörte“ für des kräfti¬ gen Knaben Ernährung ſich zu zart erwies und ſehr wahrſcheinlich, daß ihre von jeher unliebſame Gegen¬ wart der Alten auf die Dauer läſtig fiel. Ganz ge¬ wiß aber war, daß der unverſöhnliche Schellenunter von Neuem ſeine Streiche ſpielte. Sie ahnte ja nicht, daß er im verwichenen Sommer ihre Orakel¬ weisheit bereits wahr gemacht hatte. Er lauerte noch immer, und jetzt doppelt bedrohlich, unter der Kappe der anrüchigen Dirne, zu deren Patronin ihr Fräu¬ lein ſich erhoben hatte, und ſo ruhte ſie denn auch nicht, bis ſie die Gefährliche außerhalb des Weichbil¬ des ſah, das ſie, ſeitdem ſie ſelbſt ſich darin nieder¬ gelaſſen hatte, für ihres Fräuleins eigentliche Hei¬ math hielt. Dorothee aber, wie ſie die Ernährung ihres Kin¬ des einer Ziege und ſeine Wartung einem deſpotiſchen Willen überlaſſen mußte, wie ſie müßig in dem dürf¬ tigen Waldhauſe unter dem ſchnöden Gebahren ihrer Wirthin gebannt ſaß, da merkte ich gar wohl, daß das Herz ſich im Stillen nach der Freiheit und dem Behagen des eigenen Heimweſens zu ſehnen begann. Sie langweilte ſich, ſie wurde unruhig. „Was ſoll

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/40
Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/40>, abgerufen am 21.11.2024.