und Ferne eingeholt. Einmal aber sträubte sich Do¬ rothee mit einer Heftigkeit, die ihrem sonstigen Wesen völlig fremd war, und ihren Zustand steigerte, gegen jede ärztliche Behandlung; dann aber wußte auch kein Einziger eine zweckmäßig scheinende Methode vor¬ zuschlagen. Sie selbst erklärte sich für gesund und sie schien es zu sein. Ich mußte mich allerseits mit dem Vorwurf hypochondrischer Aengstlichkeit abfertigen las¬ sen. Höchstens daß man das Postulat der Kinder¬ losigkeit als die Ursache momentaner körperlicher oder gemüthlicher Störungen zu Markte brachte. Ich bin aber zu sehr Arzt, um ein Freund derartiger Po¬ stulate zu sein. Unsere Kunst ist eine der Exemtionen. Dorothee war zu zart für ein Martyrium, dem meine Mutter erlag, als sie mir das Leben gab; und lassen Sie mich hinzufügen, Fräulein Hardine, Dorothee war zu sehr Kind für die Kinderzucht, bei welcher der Vater ihr so wenig eine Stütze zu sein vermochte. Sie er¬ kannte das auch wohl selbst. Niemals hat sie eine mütterliche Sehnsucht angedeutet; ja ich sah sie von einem Schauder befallen, als wir auf einer unserer seltenen gemeinsamen Wanderungen durch die Stadt einer Schaar tobender Waisenknaben begegneten. Als ich ihr nach 1806 -- nicht zu meiner, nur zu ihrer
und Ferne eingeholt. Einmal aber ſträubte ſich Do¬ rothee mit einer Heftigkeit, die ihrem ſonſtigen Weſen völlig fremd war, und ihren Zuſtand ſteigerte, gegen jede ärztliche Behandlung; dann aber wußte auch kein Einziger eine zweckmäßig ſcheinende Methode vor¬ zuſchlagen. Sie ſelbſt erklärte ſich für geſund und ſie ſchien es zu ſein. Ich mußte mich allerſeits mit dem Vorwurf hypochondriſcher Aengſtlichkeit abfertigen laſ¬ ſen. Höchſtens daß man das Poſtulat der Kinder¬ loſigkeit als die Urſache momentaner körperlicher oder gemüthlicher Störungen zu Markte brachte. Ich bin aber zu ſehr Arzt, um ein Freund derartiger Po¬ ſtulate zu ſein. Unſere Kunſt iſt eine der Exemtionen. Dorothee war zu zart für ein Martyrium, dem meine Mutter erlag, als ſie mir das Leben gab; und laſſen Sie mich hinzufügen, Fräulein Hardine, Dorothee war zu ſehr Kind für die Kinderzucht, bei welcher der Vater ihr ſo wenig eine Stütze zu ſein vermochte. Sie er¬ kannte das auch wohl ſelbſt. Niemals hat ſie eine mütterliche Sehnſucht angedeutet; ja ich ſah ſie von einem Schauder befallen, als wir auf einer unſerer ſeltenen gemeinſamen Wanderungen durch die Stadt einer Schaar tobender Waiſenknaben begegneten. Als ich ihr nach 1806 — nicht zu meiner, nur zu ihrer
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0203"n="199"/>
und Ferne eingeholt. Einmal aber ſträubte ſich Do¬<lb/>
rothee mit einer Heftigkeit, die ihrem ſonſtigen Weſen<lb/>
völlig fremd war, und ihren Zuſtand ſteigerte, gegen<lb/>
jede ärztliche Behandlung; dann aber wußte auch<lb/>
kein Einziger eine zweckmäßig ſcheinende Methode vor¬<lb/>
zuſchlagen. Sie ſelbſt erklärte ſich für geſund und ſie<lb/>ſchien es zu ſein. Ich mußte mich allerſeits mit dem<lb/>
Vorwurf hypochondriſcher Aengſtlichkeit abfertigen laſ¬<lb/>ſen. Höchſtens daß man das Poſtulat der Kinder¬<lb/>
loſigkeit als die Urſache momentaner körperlicher oder<lb/>
gemüthlicher Störungen zu Markte brachte. Ich bin<lb/>
aber zu ſehr Arzt, um ein Freund derartiger Po¬<lb/>ſtulate zu ſein. Unſere Kunſt iſt eine der Exemtionen.<lb/>
Dorothee war zu zart für ein Martyrium, dem meine<lb/>
Mutter erlag, als ſie mir das Leben gab; und laſſen<lb/>
Sie mich hinzufügen, Fräulein Hardine, Dorothee war<lb/>
zu ſehr Kind für die Kinderzucht, bei welcher der Vater<lb/>
ihr ſo wenig eine Stütze zu ſein vermochte. Sie er¬<lb/>
kannte das auch wohl ſelbſt. Niemals hat ſie eine<lb/>
mütterliche Sehnſucht angedeutet; ja ich ſah ſie von<lb/>
einem Schauder befallen, als wir auf einer unſerer<lb/>ſeltenen gemeinſamen Wanderungen durch die Stadt<lb/>
einer Schaar tobender Waiſenknaben begegneten. Als<lb/>
ich ihr nach 1806 — nicht zu meiner, nur zu ihrer<lb/></p></div></body></text></TEI>
[199/0203]
und Ferne eingeholt. Einmal aber ſträubte ſich Do¬
rothee mit einer Heftigkeit, die ihrem ſonſtigen Weſen
völlig fremd war, und ihren Zuſtand ſteigerte, gegen
jede ärztliche Behandlung; dann aber wußte auch
kein Einziger eine zweckmäßig ſcheinende Methode vor¬
zuſchlagen. Sie ſelbſt erklärte ſich für geſund und ſie
ſchien es zu ſein. Ich mußte mich allerſeits mit dem
Vorwurf hypochondriſcher Aengſtlichkeit abfertigen laſ¬
ſen. Höchſtens daß man das Poſtulat der Kinder¬
loſigkeit als die Urſache momentaner körperlicher oder
gemüthlicher Störungen zu Markte brachte. Ich bin
aber zu ſehr Arzt, um ein Freund derartiger Po¬
ſtulate zu ſein. Unſere Kunſt iſt eine der Exemtionen.
Dorothee war zu zart für ein Martyrium, dem meine
Mutter erlag, als ſie mir das Leben gab; und laſſen
Sie mich hinzufügen, Fräulein Hardine, Dorothee war
zu ſehr Kind für die Kinderzucht, bei welcher der Vater
ihr ſo wenig eine Stütze zu ſein vermochte. Sie er¬
kannte das auch wohl ſelbſt. Niemals hat ſie eine
mütterliche Sehnſucht angedeutet; ja ich ſah ſie von
einem Schauder befallen, als wir auf einer unſerer
ſeltenen gemeinſamen Wanderungen durch die Stadt
einer Schaar tobender Waiſenknaben begegneten. Als
ich ihr nach 1806 — nicht zu meiner, nur zu ihrer
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/203>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.