"Ich möchte leben!" rief sie mit jenem unbe¬ schreiblichen Impuls, mit welchem sie damals im Gar¬ ten: "Gut sein, Hardine, heißt Gottes Kind sein!" gerufen hatte.
Und wie sie damals in rascher Wandlung sich auf die ersten Veilchen stürzte, um die Freundin mit ihnen zu schmücken, so stürzte sie sich heute auf deren Hände, drückte sie an ihr Herz und frohlockte: "O, aber nun habe ich Sie wieder, Fräulein Hardine, nun bin ich nicht mehr allein, nun bin ich vergnügt und glücklich wie sonst!"
Gleichwohl verließ ich sie mit dem Vorgefühl nahender Schmerzen. "Dörtchen sieht nicht mehr so frisch aus, wie im Herbst," sagte ich, als ich zu den Eltern zurückkehrte und der Vater entgegnete:
"Kein Wunder! Sie langweilt sich, die arme kleine Dorl. Schön wie ein Bild, siebenzehn Jahre und immer das nämliche, freudlose Einerlei!"
"Hat unsere Tochter etwa mehr Freude von ihrer Jugend, Eberhard?" fragte die Mutter scharf.
Der Vater streichelte meine Backen und ich sah es wie einen Nebel über seine Augen fliegen. "Un¬ sere Dine, unsere brave, gute Dine!" sagte er beküm¬ mert. "Verdammtes altes Hexennest! Ging's nach
„Ich möchte leben!“ rief ſie mit jenem unbe¬ ſchreiblichen Impuls, mit welchem ſie damals im Gar¬ ten: „Gut ſein, Hardine, heißt Gottes Kind ſein!“ gerufen hatte.
Und wie ſie damals in raſcher Wandlung ſich auf die erſten Veilchen ſtürzte, um die Freundin mit ihnen zu ſchmücken, ſo ſtürzte ſie ſich heute auf deren Hände, drückte ſie an ihr Herz und frohlockte: „O, aber nun habe ich Sie wieder, Fräulein Hardine, nun bin ich nicht mehr allein, nun bin ich vergnügt und glücklich wie ſonſt!“
Gleichwohl verließ ich ſie mit dem Vorgefühl nahender Schmerzen. „Dörtchen ſieht nicht mehr ſo friſch aus, wie im Herbſt,“ ſagte ich, als ich zu den Eltern zurückkehrte und der Vater entgegnete:
„Kein Wunder! Sie langweilt ſich, die arme kleine Dorl. Schön wie ein Bild, ſiebenzehn Jahre und immer das nämliche, freudloſe Einerlei!“
„Hat unſere Tochter etwa mehr Freude von ihrer Jugend, Eberhard?“ fragte die Mutter ſcharf.
Der Vater ſtreichelte meine Backen und ich ſah es wie einen Nebel über ſeine Augen fliegen. „Un¬ ſere Dine, unſere brave, gute Dine!“ ſagte er beküm¬ mert. „Verdammtes altes Hexenneſt! Ging's nach
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„Ich möchte leben!“ rief ſie mit jenem unbe¬
ſchreiblichen Impuls, mit welchem ſie damals im Gar¬
ten: „Gut ſein, Hardine, heißt Gottes Kind ſein!“
gerufen hatte.
Und wie ſie damals in raſcher Wandlung ſich
auf die erſten Veilchen ſtürzte, um die Freundin mit
ihnen zu ſchmücken, ſo ſtürzte ſie ſich heute auf deren
Hände, drückte ſie an ihr Herz und frohlockte: „O,
aber nun habe ich Sie wieder, Fräulein Hardine, nun
bin ich nicht mehr allein, nun bin ich vergnügt und
glücklich wie ſonſt!“
Gleichwohl verließ ich ſie mit dem Vorgefühl
nahender Schmerzen. „Dörtchen ſieht nicht mehr ſo
friſch aus, wie im Herbſt,“ ſagte ich, als ich zu den
Eltern zurückkehrte und der Vater entgegnete:
„Kein Wunder! Sie langweilt ſich, die arme
kleine Dorl. Schön wie ein Bild, ſiebenzehn Jahre
und immer das nämliche, freudloſe Einerlei!“
„Hat unſere Tochter etwa mehr Freude von ihrer
Jugend, Eberhard?“ fragte die Mutter ſcharf.
Der Vater ſtreichelte meine Backen und ich ſah
es wie einen Nebel über ſeine Augen fliegen. „Un¬
ſere Dine, unſere brave, gute Dine!“ ſagte er beküm¬
mert. „Verdammtes altes Hexenneſt! Ging's nach
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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/230>, abgerufen am 16.02.2025.
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