Muhme Justine war bibelfest; aber die göttlichen Verheißungen genügten ihr nicht, wo es das Erden¬ loos ihres Herzblatts galt. Die geheimnißvollsten Wahrnehmungen mußten für sie ausgedeutet, dunkle Orakel befragt werden, und das Schlußbild sämmt¬ licher Gesichte zeigte immer nur Glück und wieder Glück. Schon der Tauftag, der dritte des Lebens, war segenverheißend gewesen: Täuflingin hatte, wäh¬ rend ihr das Mützchen gelöst ward, dreimal kräftig geniest: item, sie war ein Weltwunder von Geist und Gaben; sie hatte unter dem Träufeln des Taufwassers unbändig gestrampelt und gebrüllt: item, ihrer harr¬ ten der Erde Schätze und Güter. Seit dieser Weihe¬ stunde stand für Muhme Justine die gräfliche Erb¬ schaft fest wie ein Evangelium und es verging selten ein Tag, daß sie für ihr Goldkind nicht irgend etwas Herrliches in ihren Träumen oder Karten ausgespäht hatte. Ein Glücksbrief war angekündigt, wochenlang bevor die Einladung der Gräfin die Insassen der Ba¬ derei so hoch überraschte.
Nur in einem einzigen Punkte wollten die ge¬ heimnißvollen Orakel seltsamer Weise niemals mit den Herzenswünschen meiner alten Muhme stimmen. So oft die hochwichtige Frage nach "dem Zukünftigen"
Muhme Juſtine war bibelfeſt; aber die göttlichen Verheißungen genügten ihr nicht, wo es das Erden¬ loos ihres Herzblatts galt. Die geheimnißvollſten Wahrnehmungen mußten für ſie ausgedeutet, dunkle Orakel befragt werden, und das Schlußbild ſämmt¬ licher Geſichte zeigte immer nur Glück und wieder Glück. Schon der Tauftag, der dritte des Lebens, war ſegenverheißend geweſen: Täuflingin hatte, wäh¬ rend ihr das Mützchen gelöſt ward, dreimal kräftig genieſt: item, ſie war ein Weltwunder von Geiſt und Gaben; ſie hatte unter dem Träufeln des Taufwaſſers unbändig geſtrampelt und gebrüllt: item, ihrer harr¬ ten der Erde Schätze und Güter. Seit dieſer Weihe¬ ſtunde ſtand für Muhme Juſtine die gräfliche Erb¬ ſchaft feſt wie ein Evangelium und es verging ſelten ein Tag, daß ſie für ihr Goldkind nicht irgend etwas Herrliches in ihren Träumen oder Karten ausgeſpäht hatte. Ein Glücksbrief war angekündigt, wochenlang bevor die Einladung der Gräfin die Inſaſſen der Ba¬ derei ſo hoch überraſchte.
Nur in einem einzigen Punkte wollten die ge¬ heimnißvollen Orakel ſeltſamer Weiſe niemals mit den Herzenswünſchen meiner alten Muhme ſtimmen. So oft die hochwichtige Frage nach „dem Zukünftigen“
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Muhme Juſtine war bibelfeſt; aber die göttlichen
Verheißungen genügten ihr nicht, wo es das Erden¬
loos ihres Herzblatts galt. Die geheimnißvollſten
Wahrnehmungen mußten für ſie ausgedeutet, dunkle
Orakel befragt werden, und das Schlußbild ſämmt¬
licher Geſichte zeigte immer nur Glück und wieder
Glück. Schon der Tauftag, der dritte des Lebens,
war ſegenverheißend geweſen: Täuflingin hatte, wäh¬
rend ihr das Mützchen gelöſt ward, dreimal kräftig
genieſt: item, ſie war ein Weltwunder von Geiſt und
Gaben; ſie hatte unter dem Träufeln des Taufwaſſers
unbändig geſtrampelt und gebrüllt: item, ihrer harr¬
ten der Erde Schätze und Güter. Seit dieſer Weihe¬
ſtunde ſtand für Muhme Juſtine die gräfliche Erb¬
ſchaft feſt wie ein Evangelium und es verging ſelten
ein Tag, daß ſie für ihr Goldkind nicht irgend etwas
Herrliches in ihren Träumen oder Karten ausgeſpäht
hatte. Ein Glücksbrief war angekündigt, wochenlang
bevor die Einladung der Gräfin die Inſaſſen der Ba¬
derei ſo hoch überraſchte.
Nur in einem einzigen Punkte wollten die ge¬
heimnißvollen Orakel ſeltſamer Weiſe niemals mit
den Herzenswünſchen meiner alten Muhme ſtimmen.
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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/157>, abgerufen am 24.11.2024.
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