Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

"Der Waisenvater, meinst Du? Der gute Mann
war alt; er wird lange todt sein, Lisette."

"Aber Dein leiblicher Vater, Mann!"

"Ei, wie dumm, kluge Lisette! nachdem ich eben
erst des Waisenvaters erwähnt. Einen leiblichen
habe ich nicht gekannt."

"Oder Deine Mutter -- --"

"Ich weiß von keiner Mutter, Frau."

"Von keiner Mutter? Aber eine Waisenanstalt
ist doch kein Findelhaus. Du hattest Deine Jahre,
mußt Dich auf etwas vorher besinnen können."

"Vorher? nun ja, auf die alte Muhme im Walde."

"Eine Muhme! Wie hieß sie, Mann?"

"Sie hieß Justine."

"Und weiter?"

"Weiter weiß ich's nicht."

"Aber Du mußt doch einen Vater gehabt haben.
Was war er, wo lebte er, August?"

"Weiß ich Alles nicht, altes Fragezeichen."

Die Frau ließ sich durch diesen Ehrentitel nicht
irre machen. "Besitzest Du denn gar nichts Schrift¬
liches?" forschte sie nach einigem Besinnen weiter.
"Nicht Deinen Taufschein, den Todtenschein der El¬
tern und dergleichen?"

„Der Waiſenvater, meinſt Du? Der gute Mann
war alt; er wird lange todt ſein, Liſette.“

„Aber Dein leiblicher Vater, Mann!“

„Ei, wie dumm, kluge Liſette! nachdem ich eben
erſt des Waiſenvaters erwähnt. Einen leiblichen
habe ich nicht gekannt.“

„Oder Deine Mutter — —“

„Ich weiß von keiner Mutter, Frau.“

„Von keiner Mutter? Aber eine Waiſenanſtalt
iſt doch kein Findelhaus. Du hatteſt Deine Jahre,
mußt Dich auf etwas vorher beſinnen können.“

„Vorher? nun ja, auf die alte Muhme im Walde.“

„Eine Muhme! Wie hieß ſie, Mann?“

„Sie hieß Juſtine.“

„Und weiter?“

„Weiter weiß ich's nicht.“

„Aber Du mußt doch einen Vater gehabt haben.
Was war er, wo lebte er, Auguſt?“

„Weiß ich Alles nicht, altes Fragezeichen.“

Die Frau ließ ſich durch dieſen Ehrentitel nicht
irre machen. „Beſitzeſt Du denn gar nichts Schrift¬
liches?“ forſchte ſie nach einigem Beſinnen weiter.
„Nicht Deinen Taufſchein, den Todtenſchein der El¬
tern und dergleichen?“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0014" n="7"/>
        <p>&#x201E;Der Wai&#x017F;envater, mein&#x017F;t Du? Der gute Mann<lb/>
war alt; er wird lange todt &#x017F;ein, Li&#x017F;ette.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Aber Dein leiblicher Vater, Mann!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ei, wie dumm, kluge Li&#x017F;ette! nachdem ich eben<lb/>
er&#x017F;t des <hi rendition="#g">Wai&#x017F;en</hi>vaters erwähnt. Einen <hi rendition="#g">leiblichen</hi><lb/>
habe ich nicht gekannt.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Oder Deine Mutter &#x2014; &#x2014;&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ich weiß von keiner Mutter, Frau.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Von keiner Mutter? Aber eine Wai&#x017F;enan&#x017F;talt<lb/>
i&#x017F;t doch kein Findelhaus. Du hatte&#x017F;t Deine Jahre,<lb/>
mußt Dich auf etwas <hi rendition="#g">vorher</hi> be&#x017F;innen können.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Vorher? nun ja, auf die alte Muhme im Walde.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Eine Muhme! Wie hieß &#x017F;ie, Mann?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Sie hieß Ju&#x017F;tine.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Und weiter?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Weiter weiß ich's nicht.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Aber Du mußt doch einen Vater gehabt haben.<lb/>
Was war er, wo lebte er, Augu&#x017F;t?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Weiß ich Alles nicht, altes Fragezeichen.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Die Frau ließ &#x017F;ich durch die&#x017F;en Ehrentitel nicht<lb/>
irre machen. &#x201E;Be&#x017F;itze&#x017F;t Du denn gar nichts Schrift¬<lb/>
liches?&#x201C; for&#x017F;chte &#x017F;ie nach einigem Be&#x017F;innen weiter.<lb/>
&#x201E;Nicht Deinen Tauf&#x017F;chein, den Todten&#x017F;chein der El¬<lb/>
tern und dergleichen?&#x201C;<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[7/0014] „Der Waiſenvater, meinſt Du? Der gute Mann war alt; er wird lange todt ſein, Liſette.“ „Aber Dein leiblicher Vater, Mann!“ „Ei, wie dumm, kluge Liſette! nachdem ich eben erſt des Waiſenvaters erwähnt. Einen leiblichen habe ich nicht gekannt.“ „Oder Deine Mutter — —“ „Ich weiß von keiner Mutter, Frau.“ „Von keiner Mutter? Aber eine Waiſenanſtalt iſt doch kein Findelhaus. Du hatteſt Deine Jahre, mußt Dich auf etwas vorher beſinnen können.“ „Vorher? nun ja, auf die alte Muhme im Walde.“ „Eine Muhme! Wie hieß ſie, Mann?“ „Sie hieß Juſtine.“ „Und weiter?“ „Weiter weiß ich's nicht.“ „Aber Du mußt doch einen Vater gehabt haben. Was war er, wo lebte er, Auguſt?“ „Weiß ich Alles nicht, altes Fragezeichen.“ Die Frau ließ ſich durch dieſen Ehrentitel nicht irre machen. „Beſitzeſt Du denn gar nichts Schrift¬ liches?“ forſchte ſie nach einigem Beſinnen weiter. „Nicht Deinen Taufſchein, den Todtenſchein der El¬ tern und dergleichen?“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/14
Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/14>, abgerufen am 22.11.2024.