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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871.

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Sie schlug die großen Augen verwundert zu mir
auf und dann dunkelerröthend zu Boden. Sie hatte
den Spruch überhört oder vergessen und nicht ein ein¬
ziges Mal auf ihrem Confirmationszeugniß nachge¬
lesen. Ich schluckte meinen Unwillen hinunter, citirte
den Spruch und fragte dann: "Was nennst Du, von
Gottes Geiste getrieben sein, Dorothee?"

Da sann sie denn einen einzigen Augenblick nach,
erbleichte dann eben so jäh, wie sie vorhin erröthet
war, hob sich auf die Zehenspitzen und flüsterte mir
in's Ohr: "Gut sein, gut sein, Hardine!"

Im nächsten Moment aber sprang sie laut ju¬
belnd nach einem Beet, auf welchem sie die ersten
Veilchen entdeckt hatte, pflückte sie, flocht ein paar
grüne Sprossen dazwischen und befestigte das Sträu߬
chen an meinem Busentuch. Dann schlüpfte sie vogel¬
leicht durch eine Lücke des Zauns, der unsere Gärten
trennte, warf mir noch lächelnd eine Kußhand zu und
flog nach dem Haus.

"Gut sein!" hatte sie gesagt und eine innerste
Stimme mir zugerufen, daß die Kindeseinfalt das
Richtige getroffen habe. In Wahrheit aber war mir
das alte Räthsel nur durch ein neues Räthsel gelöst.
Hieß gut sein, handeln nach Gesetz und Sitte, wie ich

Sie ſchlug die großen Augen verwundert zu mir
auf und dann dunkelerröthend zu Boden. Sie hatte
den Spruch überhört oder vergeſſen und nicht ein ein¬
ziges Mal auf ihrem Confirmationszeugniß nachge¬
leſen. Ich ſchluckte meinen Unwillen hinunter, citirte
den Spruch und fragte dann: „Was nennſt Du, von
Gottes Geiſte getrieben ſein, Dorothee?“

Da ſann ſie denn einen einzigen Augenblick nach,
erbleichte dann eben ſo jäh, wie ſie vorhin erröthet
war, hob ſich auf die Zehenſpitzen und flüſterte mir
in's Ohr: „Gut ſein, gut ſein, Hardine!“

Im nächſten Moment aber ſprang ſie laut ju¬
belnd nach einem Beet, auf welchem ſie die erſten
Veilchen entdeckt hatte, pflückte ſie, flocht ein paar
grüne Sproſſen dazwiſchen und befeſtigte das Sträu߬
chen an meinem Buſentuch. Dann ſchlüpfte ſie vogel¬
leicht durch eine Lücke des Zauns, der unſere Gärten
trennte, warf mir noch lächelnd eine Kußhand zu und
flog nach dem Haus.

„Gut ſein!“ hatte ſie geſagt und eine innerſte
Stimme mir zugerufen, daß die Kindeseinfalt das
Richtige getroffen habe. In Wahrheit aber war mir
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[110/0117] Sie ſchlug die großen Augen verwundert zu mir auf und dann dunkelerröthend zu Boden. Sie hatte den Spruch überhört oder vergeſſen und nicht ein ein¬ ziges Mal auf ihrem Confirmationszeugniß nachge¬ leſen. Ich ſchluckte meinen Unwillen hinunter, citirte den Spruch und fragte dann: „Was nennſt Du, von Gottes Geiſte getrieben ſein, Dorothee?“ Da ſann ſie denn einen einzigen Augenblick nach, erbleichte dann eben ſo jäh, wie ſie vorhin erröthet war, hob ſich auf die Zehenſpitzen und flüſterte mir in's Ohr: „Gut ſein, gut ſein, Hardine!“ Im nächſten Moment aber ſprang ſie laut ju¬ belnd nach einem Beet, auf welchem ſie die erſten Veilchen entdeckt hatte, pflückte ſie, flocht ein paar grüne Sproſſen dazwiſchen und befeſtigte das Sträu߬ chen an meinem Buſentuch. Dann ſchlüpfte ſie vogel¬ leicht durch eine Lücke des Zauns, der unſere Gärten trennte, warf mir noch lächelnd eine Kußhand zu und flog nach dem Haus. „Gut ſein!“ hatte ſie geſagt und eine innerſte Stimme mir zugerufen, daß die Kindeseinfalt das Richtige getroffen habe. In Wahrheit aber war mir das alte Räthſel nur durch ein neues Räthſel gelöſt. Hieß gut ſein, handeln nach Geſetz und Sitte, wie ich

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/117>, abgerufen am 22.11.2024.