Farbe, die an der Tagesordnung ist, scheint den Gegenständen der Beurtheilung eine ganz andere Phisionomie zu geben, so daß die davon Abhängigen, nicht mehr wissen, was sie selbst sehen, oder was jenes täuschende Blendmerk ihnen vorspiegelt? Wenn wir einen Blick auf eine gewisse Periode der Europäischen schönen Litteratur werfen, so ist es uns jetzt unbegreiflich, wie man bei den schmutzigen Sudeleien faselnder Thoren Jahrzehnte hindurch schwor, und einer Art und Weise schamlos huldigte, welcher es selbst an dem verführerischen Reiz poetischer Kraft fehlt. Wer liest heute zu Tage noch die prosaischen Aufsätze Voltaire's, ohne sie seicht und ekelhaft zu finden? Und doch ward mehr als ein großes Genie dadurch verlockt. Sind wir wirklich viel erleuchte- ter als diese? Bilden wir uns ein, mehr zu seyn als sie? Oder sind wir nur anders? und war es nicht sowohl das Hinneigen zu dem einzelnen Schlechten, als das Verfallen an eine gänzlich frivole Nichtung, welche das unklare Bedürfniß der Zeit, durch den
Farbe, die an der Tagesordnung iſt, ſcheint den Gegenſtaͤnden der Beurtheilung eine ganz andere Phiſionomie zu geben, ſo daß die davon Abhaͤngigen, nicht mehr wiſſen, was ſie ſelbſt ſehen, oder was jenes taͤuſchende Blendmerk ihnen vorſpiegelt? Wenn wir einen Blick auf eine gewiſſe Periode der Europaͤiſchen ſchoͤnen Litteratur werfen, ſo iſt es uns jetzt unbegreiflich, wie man bei den ſchmutzigen Sudeleien faſelnder Thoren Jahrzehnte hindurch ſchwor, und einer Art und Weiſe ſchamlos huldigte, welcher es ſelbſt an dem verfuͤhreriſchen Reiz poetiſcher Kraft fehlt. Wer lieſt heute zu Tage noch die proſaiſchen Aufſaͤtze Voltaire’s, ohne ſie ſeicht und ekelhaft zu finden? Und doch ward mehr als ein großes Genie dadurch verlockt. Sind wir wirklich viel erleuchte- ter als dieſe? Bilden wir uns ein, mehr zu ſeyn als ſie? Oder ſind wir nur anders? und war es nicht ſowohl das Hinneigen zu dem einzelnen Schlechten, als das Verfallen an eine gaͤnzlich frivole Nichtung, welche das unklare Beduͤrfniß der Zeit, durch den
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Farbe, die an der Tagesordnung iſt, ſcheint
den Gegenſtaͤnden der Beurtheilung eine ganz
andere Phiſionomie zu geben, ſo daß die
davon Abhaͤngigen, nicht mehr wiſſen, was
ſie ſelbſt ſehen, oder was jenes taͤuſchende
Blendmerk ihnen vorſpiegelt? Wenn wir
einen Blick auf eine gewiſſe Periode der
Europaͤiſchen ſchoͤnen Litteratur werfen, ſo
iſt es uns jetzt unbegreiflich, wie man bei
den ſchmutzigen Sudeleien faſelnder Thoren
Jahrzehnte hindurch ſchwor, und einer Art
und Weiſe ſchamlos huldigte, welcher es
ſelbſt an dem verfuͤhreriſchen Reiz poetiſcher
Kraft fehlt. Wer lieſt heute zu Tage noch
die proſaiſchen Aufſaͤtze Voltaire’s, ohne ſie
ſeicht und ekelhaft zu finden? Und doch
ward mehr als ein großes Genie dadurch
verlockt. Sind wir wirklich viel erleuchte-
ter als dieſe? Bilden wir uns ein, mehr zu
ſeyn als ſie? Oder ſind wir nur anders?
und war es nicht ſowohl das Hinneigen zu
dem einzelnen Schlechten, als das Verfallen
an eine gaͤnzlich frivole Nichtung, welche
das unklare Beduͤrfniß der Zeit, durch den
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Fouqué, Caroline de La Motte-: Die Frauen in der großen Welt. Berlin, 1826, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fouque_frauen_1826/65>, abgerufen am 26.11.2024.
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