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Forkel, Johann Nikolaus: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig, 1802.

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voll Pracht und Feyerlichkeit. Sehr häufig wählte er eine Choralmelodie dazu, und ließ nach Motetten-Art die übrigen Stimmen um sie herum fugiren. Derselbe Reichthum der Harmonie, den man in seinen übrigen Werken findet, herrscht auch hier, nur den Singstimmen und der gewählten Instrumental-Begleitung angemessen. Seine Recitative sind gut declamirt und mit reichen Bässen versehen. Bey seinen Arien, unter welchen sich viele von der feinsten und ausdrucksvollesten Melodie finden, scheint er sich oft eingeschränkt und nach den Kräften seiner Sänger und Spieler gerichtet zu haben, die aber dessen ungeachtet ewige Klagen über die Schwierigkeiten derselben zu führen hatten. Wäre er so glücklich gewesen, lauter gute Ausführer seiner Kirchenarbeiten zu haben, so würden sie gewiß Eindrücke ihrer Vortrefflichkeit hinterlassen haben, und so wie seine andern Werke noch jetzt bewundert und genutzt werden. Der unerschöpfliche Schatz von Kunst, welcher in ihnen liegt, wäre einer längern Aufbewahrung gewiß werth gewesen.

Unter sehr vielen Gelegenheits-Musiken, die er in Leipzig verfertigt hat, gedenke ich nur zweyer Trauer-Cantaten, deren eine bey der Begräbniß-Feyer seines geliebten Fürsten Leopold zu Cöthen, die andere aber bey der Trauerrede auf den Tod der Königin von Pohlen und Churfürstin zu Sachsen, Christiane Eberhardine in der Paulinerkirche zu Leipzig aufgeführt wurde. Die erste enthält Doppelchöre von ungemeiner Pracht und vom rührendsten Ausdruck; die zweyte hat zwar nur einfache Chöre, aber so anziehende, daß wer einmahl angefangen hat, einen durchzuspielen, nicht davon kommen wird, ohne ihn geendigt zu haben. Sie ist im October 1727 componirt.

Außer den bisher angezeigten Werken für den Gesang hat Bach auch sehr viele Motetten, hauptsächlich für das Chor der Leipziger Thomas-Schule gemacht. Dieses Chor hat stets gegen 50, auch wohl bisweilen mehrere Sänger enthalten, für deren musikalische Bildung Bach väterlich sorgte, und ihnen durch ein- zwey- und mehrchörige Motetten so viel Uebung verschaffte, daß sie wenigstens sichere Treffer und reinliche Chorsänger werden konnten. Unter den zu diesem Zwecke bestimmten 2chörigen Motetten finden sich mehrere, die an Pracht, an Reichthum der Harmonie und Melodie, und an Leben und Geist alles übertreffen, was man von dieser Art hören kann. Sie sind aber, wie alle Bachische, oder vielmehr wie alle reiche, große Kunstwerke, schwer auszuführen, und müssen noch überdieß stark besetzt seyn, wenn sie ihre volle Wirkung thun sollen.

voll Pracht und Feyerlichkeit. Sehr häufig wählte er eine Choralmelodie dazu, und ließ nach Motetten-Art die übrigen Stimmen um sie herum fugiren. Derselbe Reichthum der Harmonie, den man in seinen übrigen Werken findet, herrscht auch hier, nur den Singstimmen und der gewählten Instrumental-Begleitung angemessen. Seine Recitative sind gut declamirt und mit reichen Bässen versehen. Bey seinen Arien, unter welchen sich viele von der feinsten und ausdrucksvollesten Melodie finden, scheint er sich oft eingeschränkt und nach den Kräften seiner Sänger und Spieler gerichtet zu haben, die aber dessen ungeachtet ewige Klagen über die Schwierigkeiten derselben zu führen hatten. Wäre er so glücklich gewesen, lauter gute Ausführer seiner Kirchenarbeiten zu haben, so würden sie gewiß Eindrücke ihrer Vortrefflichkeit hinterlassen haben, und so wie seine andern Werke noch jetzt bewundert und genutzt werden. Der unerschöpfliche Schatz von Kunst, welcher in ihnen liegt, wäre einer längern Aufbewahrung gewiß werth gewesen.

Unter sehr vielen Gelegenheits-Musiken, die er in Leipzig verfertigt hat, gedenke ich nur zweyer Trauer-Cantaten, deren eine bey der Begräbniß-Feyer seines geliebten Fürsten Leopold zu Cöthen, die andere aber bey der Trauerrede auf den Tod der Königin von Pohlen und Churfürstin zu Sachsen, Christiane Eberhardine in der Paulinerkirche zu Leipzig aufgeführt wurde. Die erste enthält Doppelchöre von ungemeiner Pracht und vom rührendsten Ausdruck; die zweyte hat zwar nur einfache Chöre, aber so anziehende, daß wer einmahl angefangen hat, einen durchzuspielen, nicht davon kommen wird, ohne ihn geendigt zu haben. Sie ist im October 1727 componirt.

Außer den bisher angezeigten Werken für den Gesang hat Bach auch sehr viele Motetten, hauptsächlich für das Chor der Leipziger Thomas-Schule gemacht. Dieses Chor hat stets gegen 50, auch wohl bisweilen mehrere Sänger enthalten, für deren musikalische Bildung Bach väterlich sorgte, und ihnen durch ein- zwey- und mehrchörige Motetten so viel Uebung verschaffte, daß sie wenigstens sichere Treffer und reinliche Chorsänger werden konnten. Unter den zu diesem Zwecke bestimmten 2chörigen Motetten finden sich mehrere, die an Pracht, an Reichthum der Harmonie und Melodie, und an Leben und Geist alles übertreffen, was man von dieser Art hören kann. Sie sind aber, wie alle Bachische, oder vielmehr wie alle reiche, große Kunstwerke, schwer auszuführen, und müssen noch überdieß stark besetzt seyn, wenn sie ihre volle Wirkung thun sollen.

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[36/0046] voll Pracht und Feyerlichkeit. Sehr häufig wählte er eine Choralmelodie dazu, und ließ nach Motetten-Art die übrigen Stimmen um sie herum fugiren. Derselbe Reichthum der Harmonie, den man in seinen übrigen Werken findet, herrscht auch hier, nur den Singstimmen und der gewählten Instrumental-Begleitung angemessen. Seine Recitative sind gut declamirt und mit reichen Bässen versehen. Bey seinen Arien, unter welchen sich viele von der feinsten und ausdrucksvollesten Melodie finden, scheint er sich oft eingeschränkt und nach den Kräften seiner Sänger und Spieler gerichtet zu haben, die aber dessen ungeachtet ewige Klagen über die Schwierigkeiten derselben zu führen hatten. Wäre er so glücklich gewesen, lauter gute Ausführer seiner Kirchenarbeiten zu haben, so würden sie gewiß Eindrücke ihrer Vortrefflichkeit hinterlassen haben, und so wie seine andern Werke noch jetzt bewundert und genutzt werden. Der unerschöpfliche Schatz von Kunst, welcher in ihnen liegt, wäre einer längern Aufbewahrung gewiß werth gewesen. Unter sehr vielen Gelegenheits-Musiken, die er in Leipzig verfertigt hat, gedenke ich nur zweyer Trauer-Cantaten, deren eine bey der Begräbniß-Feyer seines geliebten Fürsten Leopold zu Cöthen, die andere aber bey der Trauerrede auf den Tod der Königin von Pohlen und Churfürstin zu Sachsen, Christiane Eberhardine in der Paulinerkirche zu Leipzig aufgeführt wurde. Die erste enthält Doppelchöre von ungemeiner Pracht und vom rührendsten Ausdruck; die zweyte hat zwar nur einfache Chöre, aber so anziehende, daß wer einmahl angefangen hat, einen durchzuspielen, nicht davon kommen wird, ohne ihn geendigt zu haben. Sie ist im October 1727 componirt. Außer den bisher angezeigten Werken für den Gesang hat Bach auch sehr viele Motetten, hauptsächlich für das Chor der Leipziger Thomas-Schule gemacht. Dieses Chor hat stets gegen 50, auch wohl bisweilen mehrere Sänger enthalten, für deren musikalische Bildung Bach väterlich sorgte, und ihnen durch ein- zwey- und mehrchörige Motetten so viel Uebung verschaffte, daß sie wenigstens sichere Treffer und reinliche Chorsänger werden konnten. Unter den zu diesem Zwecke bestimmten 2chörigen Motetten finden sich mehrere, die an Pracht, an Reichthum der Harmonie und Melodie, und an Leben und Geist alles übertreffen, was man von dieser Art hören kann. Sie sind aber, wie alle Bachische, oder vielmehr wie alle reiche, große Kunstwerke, schwer auszuführen, und müssen noch überdieß stark besetzt seyn, wenn sie ihre volle Wirkung thun sollen.

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Zitationshilfe: Forkel, Johann Nikolaus: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig, 1802, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/forkel_bach_1802/46>, abgerufen am 24.11.2024.