ich mich dichterisch ihm gegenüber aufs hohe Pferd setzte. Wenn es geschah, hatte ich zwar wohl immer recht - denn ich stellte ihn als Mensch und Poeten viel zu hoch, als daß ich anders, als innerlichst gezwungen, mit einer herben Kritik über ihn hätte herausrücken können - aber ich versah es dabei, vielleicht gerade weil ich vorher einen Kampf in mir durchgemacht hatte, mehr oder weniger im Ton, und daß er mir diesen mitunter sehr mißglückten Ton verzieh, war immer ein Beweis seiner vornehmen Gesinnung und seiner großen Liebe zu mir. Die fatalste Szene derart ist mir noch deutlich in Erinnerung. Es war im Sommer 59, kurze Zeit nach Niederwerfung des indischen Aufstandes, als die Schilderungen von der Erstürmung von Delhi und Khaunpur und vor allem die Berichte von dem "Mädchen von Lucknow" durch alle Zeitungen gingen. Das Mädchen von Lucknow. Ja, das war ein Stoff! Ich war davon benommen wie von keinem zweiten und wälzte die grandios poetische Geschichte seit Monaten in mir herum, hatte das Gedicht auch schon halb fertig und kam während ich mich damit noch abmühte, keines Ueberfalls gewärtig, in den Tunnel, wo sich Lepel eben an das kleine Vorlese-Tischchen setzte, um ein Gedicht unter dem Titel "Jessie Brown" zum Besten zu geben. Jessie Brown! Ja, warum nicht? Warum nicht Jessie
ich mich dichterisch ihm gegenüber aufs hohe Pferd setzte. Wenn es geschah, hatte ich zwar wohl immer recht – denn ich stellte ihn als Mensch und Poeten viel zu hoch, als daß ich anders, als innerlichst gezwungen, mit einer herben Kritik über ihn hätte herausrücken können – aber ich versah es dabei, vielleicht gerade weil ich vorher einen Kampf in mir durchgemacht hatte, mehr oder weniger im Ton, und daß er mir diesen mitunter sehr mißglückten Ton verzieh, war immer ein Beweis seiner vornehmen Gesinnung und seiner großen Liebe zu mir. Die fatalste Szene derart ist mir noch deutlich in Erinnerung. Es war im Sommer 59, kurze Zeit nach Niederwerfung des indischen Aufstandes, als die Schilderungen von der Erstürmung von Delhi und Khaunpur und vor allem die Berichte von dem „Mädchen von Lucknow“ durch alle Zeitungen gingen. Das Mädchen von Lucknow. Ja, das war ein Stoff! Ich war davon benommen wie von keinem zweiten und wälzte die grandios poetische Geschichte seit Monaten in mir herum, hatte das Gedicht auch schon halb fertig und kam während ich mich damit noch abmühte, keines Ueberfalls gewärtig, in den Tunnel, wo sich Lepel eben an das kleine Vorlese-Tischchen setzte, um ein Gedicht unter dem Titel „Jessie Brown“ zum Besten zu geben. Jessie Brown! Ja, warum nicht? Warum nicht Jessie
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ich mich dichterisch ihm gegenüber aufs hohe Pferd setzte. Wenn es geschah, hatte ich zwar wohl immer recht – denn ich stellte ihn als Mensch und Poeten viel zu hoch, als daß ich anders, als innerlichst gezwungen, mit einer herben Kritik über ihn hätte herausrücken können – aber ich versah es dabei, vielleicht gerade weil ich vorher einen Kampf in mir durchgemacht hatte, mehr oder weniger im Ton, und daß er mir diesen mitunter sehr mißglückten Ton verzieh, war immer ein Beweis seiner vornehmen Gesinnung und seiner großen Liebe zu mir. Die fatalste Szene derart ist mir noch deutlich in Erinnerung. Es war im Sommer 59, kurze Zeit nach Niederwerfung des indischen Aufstandes, als die Schilderungen von der Erstürmung von Delhi und Khaunpur und vor allem die Berichte von dem „Mädchen von Lucknow“ durch alle Zeitungen gingen. Das Mädchen von Lucknow. Ja, das war ein Stoff! Ich war davon benommen wie von keinem zweiten und wälzte die grandios poetische Geschichte seit Monaten in mir herum, hatte das Gedicht auch schon halb fertig und kam während ich mich damit noch abmühte, keines Ueberfalls gewärtig, in den Tunnel, wo sich Lepel eben an das kleine Vorlese-Tischchen setzte, um ein Gedicht unter dem Titel „Jessie Brown“ zum Besten zu geben. Jessie Brown! Ja, warum nicht? Warum nicht Jessie<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
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ich mich dichterisch ihm gegenüber aufs hohe Pferd setzte. Wenn es geschah, hatte ich zwar wohl immer recht – denn ich stellte ihn als Mensch und Poeten viel zu hoch, als daß ich anders, als innerlichst gezwungen, mit einer herben Kritik über ihn hätte herausrücken können – aber ich versah es dabei, vielleicht gerade weil ich vorher einen Kampf in mir durchgemacht hatte, mehr oder weniger im Ton, und daß er mir diesen mitunter sehr mißglückten Ton verzieh, war immer ein Beweis seiner vornehmen Gesinnung und seiner großen Liebe zu mir. Die fatalste Szene derart ist mir noch deutlich in Erinnerung. Es war im Sommer 59, kurze Zeit nach Niederwerfung des indischen Aufstandes, als die Schilderungen von der Erstürmung von Delhi und Khaunpur und vor allem die Berichte von dem „Mädchen von Lucknow“ durch alle Zeitungen gingen. Das Mädchen von Lucknow. Ja, das war ein Stoff! Ich war davon benommen wie von keinem zweiten und wälzte die grandios poetische Geschichte seit Monaten in mir herum, hatte das Gedicht auch schon halb fertig und kam während ich mich damit noch abmühte, keines Ueberfalls gewärtig, in den Tunnel, wo sich Lepel eben an das kleine Vorlese-Tischchen setzte, um ein Gedicht unter dem Titel „Jessie Brown“ zum Besten zu geben. Jessie Brown! Ja, warum nicht? Warum nicht Jessie
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Fontane, Theodor: Von Zwanzig bis Dreißig. 1. Aufl. Berlin, 1898, S. 507. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_zwanzig_1898/516>, abgerufen am 23.07.2024.
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