Fontane, Theodor: Von Zwanzig bis Dreißig. 1. Aufl. Berlin, 1898.ist in der Berliner Luft etwas, was meinem Wesen widersteht, und was ich auch bis zu einem gewissen Grade zu erkennen glaube. Es ist, meine ich, das, daß man auch in den gebildeten Kreisen Berlins den Schwerpunkt nicht in die Persönlichkeit, sondern in Rang, Titel, Orden und dergleichen Nipps legt, für deren auch nur verhältnismäßige Würdigung mir, wie wohl den meisten meiner Landsleute, jedes Organ abgeht. Es scheint mir im ganzen "die goldene Rücksichtslosigkeit" zu fehlen, die allein den Menschen innerlich frei macht und die nach meiner Ansicht das letzte und höchste Resultat jeder Bildung sein muß. Man scheint sich, nach den Eindrücken, die ich empfangen, in Berlin mit der Geschmacksbildung zu begnügen, mit der die Rücksichtnahme auf alle Faktoren eines bequemen Lebens ungestört bestehen kann, während die Vollendung der sittlichen, der Gemütsbildung in einer Zeit wie die unsere, jeden Augenblick das Opfer aller Lebensverhältnisse und Güter verlangen kann. Diesem ersten Briefe folgte sehr bald ein zweiter. Husum, Ostermontag 1853. Ich will's dem erwarteten Frühling zuschreiben, daß das erste "Grüne Blatt" Ihnen so viel abgewonnen. Aber beim zweiten Lesen, beim Vorlesen, ist in der Berliner Luft etwas, was meinem Wesen widersteht, und was ich auch bis zu einem gewissen Grade zu erkennen glaube. Es ist, meine ich, das, daß man auch in den gebildeten Kreisen Berlins den Schwerpunkt nicht in die Persönlichkeit, sondern in Rang, Titel, Orden und dergleichen Nipps legt, für deren auch nur verhältnismäßige Würdigung mir, wie wohl den meisten meiner Landsleute, jedes Organ abgeht. Es scheint mir im ganzen „die goldene Rücksichtslosigkeit“ zu fehlen, die allein den Menschen innerlich frei macht und die nach meiner Ansicht das letzte und höchste Resultat jeder Bildung sein muß. Man scheint sich, nach den Eindrücken, die ich empfangen, in Berlin mit der Geschmacksbildung zu begnügen, mit der die Rücksichtnahme auf alle Faktoren eines bequemen Lebens ungestört bestehen kann, während die Vollendung der sittlichen, der Gemütsbildung in einer Zeit wie die unsere, jeden Augenblick das Opfer aller Lebensverhältnisse und Güter verlangen kann. Diesem ersten Briefe folgte sehr bald ein zweiter. Husum, Ostermontag 1853. Ich will’s dem erwarteten Frühling zuschreiben, daß das erste „Grüne Blatt“ Ihnen so viel abgewonnen. Aber beim zweiten Lesen, beim Vorlesen, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <floatingText> <body> <div type="letter"> <p><pb facs="#f0345" n="336"/> ist in der Berliner Luft etwas, was meinem Wesen widersteht, und was ich auch bis zu einem gewissen Grade zu erkennen glaube. Es ist, meine ich, das, daß man auch in den gebildeten Kreisen Berlins den Schwerpunkt nicht in die Persönlichkeit, sondern in Rang, Titel, Orden und dergleichen Nipps legt, für deren auch nur verhältnismäßige Würdigung mir, wie wohl den meisten meiner Landsleute, jedes Organ abgeht. Es scheint mir im <hi rendition="#g">ganzen</hi> „die goldene Rücksichtslosigkeit“ zu fehlen, die allein den Menschen innerlich frei macht und die nach meiner Ansicht das letzte und höchste Resultat jeder Bildung sein muß. Man scheint sich, nach den Eindrücken, die ich empfangen, in Berlin mit der <hi rendition="#g">Geschmacks</hi>bildung zu begnügen, mit der die Rücksichtnahme auf alle Faktoren eines bequemen Lebens ungestört bestehen kann, während die Vollendung der sittlichen, der Gemütsbildung in einer Zeit wie die unsere, jeden Augenblick das Opfer aller Lebensverhältnisse und Güter verlangen kann.</p> </div> </body> </floatingText> <p>Diesem ersten Briefe folgte sehr bald ein zweiter.</p><lb/> <floatingText> <body> <div type="letter"> <opener> <dateline><hi rendition="#g">Husum</hi>, Ostermontag 1853.</dateline> </opener> <p>Ich will’s dem erwarteten Frühling zuschreiben, daß das erste „Grüne Blatt“ Ihnen so viel abgewonnen. Aber beim zweiten Lesen, beim Vorlesen,<lb/></p> </div> </body> </floatingText> </div> </div> </body> </text> </TEI> [336/0345]
ist in der Berliner Luft etwas, was meinem Wesen widersteht, und was ich auch bis zu einem gewissen Grade zu erkennen glaube. Es ist, meine ich, das, daß man auch in den gebildeten Kreisen Berlins den Schwerpunkt nicht in die Persönlichkeit, sondern in Rang, Titel, Orden und dergleichen Nipps legt, für deren auch nur verhältnismäßige Würdigung mir, wie wohl den meisten meiner Landsleute, jedes Organ abgeht. Es scheint mir im ganzen „die goldene Rücksichtslosigkeit“ zu fehlen, die allein den Menschen innerlich frei macht und die nach meiner Ansicht das letzte und höchste Resultat jeder Bildung sein muß. Man scheint sich, nach den Eindrücken, die ich empfangen, in Berlin mit der Geschmacksbildung zu begnügen, mit der die Rücksichtnahme auf alle Faktoren eines bequemen Lebens ungestört bestehen kann, während die Vollendung der sittlichen, der Gemütsbildung in einer Zeit wie die unsere, jeden Augenblick das Opfer aller Lebensverhältnisse und Güter verlangen kann.
Diesem ersten Briefe folgte sehr bald ein zweiter.
Husum, Ostermontag 1853.Ich will’s dem erwarteten Frühling zuschreiben, daß das erste „Grüne Blatt“ Ihnen so viel abgewonnen. Aber beim zweiten Lesen, beim Vorlesen,
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(2018-07-25T10:02:20Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Rahel Gajaneh Hartz: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2018-07-25T10:02:20Z)
Weitere Informationen:Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches. Hrsg. von der Theodor Fontane-Arbeitsstelle, Universität Göttingen. Bandbearbeiter: Wolfgang Rasch. Berlin 2014 [= Große Brandenburger Ausgabe, Das autobiographische Werk, Bd. 3]: Bereitstellung der Texttranskription (mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlags Berlin). Verfahren der Texterfassung: manuell (einfach erfasst).
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