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Fontane, Theodor: Von Zwanzig bis Dreißig. 1. Aufl. Berlin, 1898.

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ihm durch allen Wandel der Zeiten treu gebliebene liebenswürdige Natur. In der das jedesmalige Stiftungsfest einleitenden Sitzung suchten Alle durch "Späne" ihr Bestes zu thun, und bei Tische lösten sich neue und alte Lieder ab. Unter den alten stand das von Rudolf Löwenstein gedichtete Tunnellied oben an, dessen erste Strophe lautet:

Zu London unter der Themse
Der mächtige Tunnel liegt,
Der Strom, scheu wie die Gemse,
Hin über die Tiefe fliegt ...

Wir waren, wenn wir das sangen, immer in sehr gehobener Stimmung, beinahe gerührt, und noch in diesem Augenblick bezaubert mich ein gewisses Etwas in diesen vier Zeilen, trotzdem ich sie, nüchtern erwogen, sehr anfechtbar finde. Wer die Londoner Themse gesehen hat, wird ihr alles Mögliche nachrühmen können, nur nicht den Gemsencharakter und die Scheuheit. Aber sonderbar, es giebt in der Poesie so viele Wendungen, die trotz ihrer Mängel, ja, vielleicht um derselben willen, einen immer wieder lebhaft erfreuen und so zu sagen "Jenseits von gut und böse" liegen.

Selbstverständlich, da der Tunnel auch Komponisten und Virtuosen zu seinen Mitgliedern zählte, kam es bei den Stiftungsfesten mehr als einmal zu

ihm durch allen Wandel der Zeiten treu gebliebene liebenswürdige Natur. In der das jedesmalige Stiftungsfest einleitenden Sitzung suchten Alle durch „Späne“ ihr Bestes zu thun, und bei Tische lösten sich neue und alte Lieder ab. Unter den alten stand das von Rudolf Löwenstein gedichtete Tunnellied oben an, dessen erste Strophe lautet:

Zu London unter der Themse
Der mächtige Tunnel liegt,
Der Strom, scheu wie die Gemse,
Hin über die Tiefe fliegt …

Wir waren, wenn wir das sangen, immer in sehr gehobener Stimmung, beinahe gerührt, und noch in diesem Augenblick bezaubert mich ein gewisses Etwas in diesen vier Zeilen, trotzdem ich sie, nüchtern erwogen, sehr anfechtbar finde. Wer die Londoner Themse gesehen hat, wird ihr alles Mögliche nachrühmen können, nur nicht den Gemsencharakter und die Scheuheit. Aber sonderbar, es giebt in der Poesie so viele Wendungen, die trotz ihrer Mängel, ja, vielleicht um derselben willen, einen immer wieder lebhaft erfreuen und so zu sagen „Jenseits von gut und böse“ liegen.

Selbstverständlich, da der Tunnel auch Komponisten und Virtuosen zu seinen Mitgliedern zählte, kam es bei den Stiftungsfesten mehr als einmal zu

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[274/0283] ihm durch allen Wandel der Zeiten treu gebliebene liebenswürdige Natur. In der das jedesmalige Stiftungsfest einleitenden Sitzung suchten Alle durch „Späne“ ihr Bestes zu thun, und bei Tische lösten sich neue und alte Lieder ab. Unter den alten stand das von Rudolf Löwenstein gedichtete Tunnellied oben an, dessen erste Strophe lautet: Zu London unter der Themse Der mächtige Tunnel liegt, Der Strom, scheu wie die Gemse, Hin über die Tiefe fliegt … Wir waren, wenn wir das sangen, immer in sehr gehobener Stimmung, beinahe gerührt, und noch in diesem Augenblick bezaubert mich ein gewisses Etwas in diesen vier Zeilen, trotzdem ich sie, nüchtern erwogen, sehr anfechtbar finde. Wer die Londoner Themse gesehen hat, wird ihr alles Mögliche nachrühmen können, nur nicht den Gemsencharakter und die Scheuheit. Aber sonderbar, es giebt in der Poesie so viele Wendungen, die trotz ihrer Mängel, ja, vielleicht um derselben willen, einen immer wieder lebhaft erfreuen und so zu sagen „Jenseits von gut und böse“ liegen. Selbstverständlich, da der Tunnel auch Komponisten und Virtuosen zu seinen Mitgliedern zählte, kam es bei den Stiftungsfesten mehr als einmal zu

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Theodor Fontane-Arbeitsstelle der Georg-August-Universität Göttingen, Theodor Fontane: Große Brandenburger Ausgabe (GBA): Bereitstellung der Texttranskription (mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlags Berlin). (2018-07-25T10:02:20Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Rahel Gajaneh Hartz: Bearbeitung der digitalen Edition. (2018-07-25T10:02:20Z)

Weitere Informationen:

Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches. Hrsg. von der Theodor Fontane-Arbeitsstelle, Universität Göttingen. Bandbearbeiter: Wolfgang Rasch. Berlin 2014 [= Große Brandenburger Ausgabe, Das autobiographische Werk, Bd. 3]: Bereitstellung der Texttranskription (mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlags Berlin).

Verfahren der Texterfassung: manuell (einfach erfasst).

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Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Von Zwanzig bis Dreißig. 1. Aufl. Berlin, 1898, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_zwanzig_1898/283>, abgerufen am 25.11.2024.