Fontane, Theodor: Von Zwanzig bis Dreißig. 1. Aufl. Berlin, 1898.geschieden. Alles in allem hatte ich, wenn ich von meiner Mutter - die aber ganz als Ausnahme dastand - absehe, so wenig geordnete Zustände gesehn, daß mir die Vorgänge mit Onkel August, so sehr sie mich momentan erschüttert hatten, unmöglich einen besonderen moralischen Degout, am wenigsten aber einen nachhaltigen, hätten einflößen können. Meine jetzt grenzenlose Verachtung solcher elenden Wirtschaft trägt leider ein ziemlich verspätetes Datum. So zog ich denn um Ostern zweiundvierzig aufs neue bei meinem Onkel August ein und war kreuzvergnügt - man vergißt gern, was einem nicht paßt - wieder so gute Tage leben und an so viel Heiterkeit teilnehmen zu können. Ganz so wie damals, wo Figaro durch die Armbeuge sprang. Onkel August, völlig unverändert, sammelte nach wie vor Witze, konnte gut sächsisch sprechen und saß bei Bonorand und Kintschy, wie er früher "bei Liesens" gesessen und sein Spielchen gemacht hatte. Wir gingen in den Großen und Kleinen Kuchengarten, aßen in einem reizenden, nach Lindenau hin gelegenen Vergnügungslokal allerliebste kleine Koteletts und ein Gemüsegericht dazu, das, glaub ich, "Neunerlei" hieß und als eine Leipziger Spezialität galt oder saßen auch wohl in Gohlis mit dem Schauspieler geschieden. Alles in allem hatte ich, wenn ich von meiner Mutter – die aber ganz als Ausnahme dastand – absehe, so wenig geordnete Zustände gesehn, daß mir die Vorgänge mit Onkel August, so sehr sie mich momentan erschüttert hatten, unmöglich einen besonderen moralischen Degout, am wenigsten aber einen nachhaltigen, hätten einflößen können. Meine jetzt grenzenlose Verachtung solcher elenden Wirtschaft trägt leider ein ziemlich verspätetes Datum. So zog ich denn um Ostern zweiundvierzig aufs neue bei meinem Onkel August ein und war kreuzvergnügt – man vergißt gern, was einem nicht paßt – wieder so gute Tage leben und an so viel Heiterkeit teilnehmen zu können. Ganz so wie damals, wo Figaro durch die Armbeuge sprang. Onkel August, völlig unverändert, sammelte nach wie vor Witze, konnte gut sächsisch sprechen und saß bei Bonorand und Kintschy, wie er früher „bei Liesens“ gesessen und sein Spielchen gemacht hatte. Wir gingen in den Großen und Kleinen Kuchengarten, aßen in einem reizenden, nach Lindenau hin gelegenen Vergnügungslokal allerliebste kleine Koteletts und ein Gemüsegericht dazu, das, glaub ich, „Neunerlei“ hieß und als eine Leipziger Spezialität galt oder saßen auch wohl in Gohlis mit dem Schauspieler <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0213" n="204"/> geschieden. Alles in allem hatte ich, wenn ich von meiner Mutter – die aber ganz als Ausnahme dastand – absehe, so wenig geordnete Zustände gesehn, daß mir die Vorgänge mit Onkel August, so sehr sie mich momentan erschüttert hatten, unmöglich einen besonderen moralischen Degout, am wenigsten aber einen nachhaltigen, hätten einflößen können. Meine jetzt grenzenlose Verachtung solcher elenden Wirtschaft trägt leider ein ziemlich verspätetes Datum.</p><lb/> <p>So zog ich denn um Ostern zweiundvierzig aufs neue bei meinem Onkel August ein und war kreuzvergnügt – man vergißt gern, was einem nicht paßt – wieder so gute Tage leben und an so viel Heiterkeit teilnehmen zu können. Ganz so wie damals, wo Figaro durch die Armbeuge sprang. Onkel August, völlig unverändert, sammelte nach wie vor Witze, konnte gut sächsisch sprechen und saß bei Bonorand und Kintschy, wie er früher „bei Liesens“ gesessen und sein Spielchen gemacht hatte. Wir gingen in den Großen und Kleinen Kuchengarten, aßen in einem reizenden, nach Lindenau hin gelegenen Vergnügungslokal allerliebste kleine Koteletts und ein Gemüsegericht dazu, das, glaub ich, „Neunerlei“ hieß und als eine Leipziger Spezialität galt oder saßen auch wohl in Gohlis mit dem Schauspieler<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [204/0213]
geschieden. Alles in allem hatte ich, wenn ich von meiner Mutter – die aber ganz als Ausnahme dastand – absehe, so wenig geordnete Zustände gesehn, daß mir die Vorgänge mit Onkel August, so sehr sie mich momentan erschüttert hatten, unmöglich einen besonderen moralischen Degout, am wenigsten aber einen nachhaltigen, hätten einflößen können. Meine jetzt grenzenlose Verachtung solcher elenden Wirtschaft trägt leider ein ziemlich verspätetes Datum.
So zog ich denn um Ostern zweiundvierzig aufs neue bei meinem Onkel August ein und war kreuzvergnügt – man vergißt gern, was einem nicht paßt – wieder so gute Tage leben und an so viel Heiterkeit teilnehmen zu können. Ganz so wie damals, wo Figaro durch die Armbeuge sprang. Onkel August, völlig unverändert, sammelte nach wie vor Witze, konnte gut sächsisch sprechen und saß bei Bonorand und Kintschy, wie er früher „bei Liesens“ gesessen und sein Spielchen gemacht hatte. Wir gingen in den Großen und Kleinen Kuchengarten, aßen in einem reizenden, nach Lindenau hin gelegenen Vergnügungslokal allerliebste kleine Koteletts und ein Gemüsegericht dazu, das, glaub ich, „Neunerlei“ hieß und als eine Leipziger Spezialität galt oder saßen auch wohl in Gohlis mit dem Schauspieler
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(2018-07-25T10:02:20Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Rahel Gajaneh Hartz: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2018-07-25T10:02:20Z)
Weitere Informationen:Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches. Hrsg. von der Theodor Fontane-Arbeitsstelle, Universität Göttingen. Bandbearbeiter: Wolfgang Rasch. Berlin 2014 [= Große Brandenburger Ausgabe, Das autobiographische Werk, Bd. 3]: Bereitstellung der Texttranskription (mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlags Berlin). Verfahren der Texterfassung: manuell (einfach erfasst).
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