Fontane, Theodor: Jenseit des Tweed. Bilder und Briefe aus Schottland. Berlin, 1860.Arbeit von der Stirn zu wischen. Neben ihm, den Rücken an den Laternenpfosten gelehnt, stand ein Siebziger von fast patriarchalischem Ansehn. Er war blind und von noblen Gesichtszügen; sein weißes Haar, das bis auf die Schultern herabhing, bewegte sich leis im Winde; dazu spielte um seinen Mund jener leise Zug von Humor und List, dem man so oft an alten Judenköpfen zu begegnen pflegt. Beide Männer waren in der That Juden, aber jener Sekte zugehörig, die unter dem Namen der "Christ-Israeliten" in Amerika und England eine Art von Notorität erlangt hat. Die Kleidung beider Männer war gleich und trug dazu bei den Reiz des Bildes zu erhöhen. Olivenfarbene Weste und Beinkleider, dunkelblaue Röcke mit großen Knöpfen, schwere Schuhe und weiße, niedrige Felbel-Hüte, dazu Berloques und allerhand Uhrbehang, der bei dem Mann auf der Fußbank wie ein Schlüsselbund klapperte, während er bei dem Alten in ruhigen Pendelschwingungen sich hin und her bewegte. Was war nun der Inhalt der mit immer wachsender Stimme herausgepolterten Rede? Nichts als Vertheidigung seiner Sekte und seiner Person gegen die Angriffe einer in Leeds erscheinenden Zeitung. Die Leeds-Times (wie ich vermuthe, mit nur allzu großem Recht) hatte funfzehn Monate früher Gelegenheit genommen, den ganzen Christ-Israelitismus als eine großartige Prellerei und denselben John-Wroe, der da eben vor uns stand, als einen Vater der Lüge abzuconterfeien, und dieser eine Zeitungsartikel hatte nun seit Jahresfrist ein Motiv ab- Arbeit von der Stirn zu wischen. Neben ihm, den Rücken an den Laternenpfosten gelehnt, stand ein Siebziger von fast patriarchalischem Ansehn. Er war blind und von noblen Gesichtszügen; sein weißes Haar, das bis auf die Schultern herabhing, bewegte sich leis im Winde; dazu spielte um seinen Mund jener leise Zug von Humor und List, dem man so oft an alten Judenköpfen zu begegnen pflegt. Beide Männer waren in der That Juden, aber jener Sekte zugehörig, die unter dem Namen der „Christ-Israeliten“ in Amerika und England eine Art von Notorität erlangt hat. Die Kleidung beider Männer war gleich und trug dazu bei den Reiz des Bildes zu erhöhen. Olivenfarbene Weste und Beinkleider, dunkelblaue Röcke mit großen Knöpfen, schwere Schuhe und weiße, niedrige Felbel-Hüte, dazu Berloques und allerhand Uhrbehang, der bei dem Mann auf der Fußbank wie ein Schlüsselbund klapperte, während er bei dem Alten in ruhigen Pendelschwingungen sich hin und her bewegte. Was war nun der Inhalt der mit immer wachsender Stimme herausgepolterten Rede? Nichts als Vertheidigung seiner Sekte und seiner Person gegen die Angriffe einer in Leeds erscheinenden Zeitung. Die Leeds-Times (wie ich vermuthe, mit nur allzu großem Recht) hatte funfzehn Monate früher Gelegenheit genommen, den ganzen Christ-Israelitismus als eine großartige Prellerei und denselben John-Wroe, der da eben vor uns stand, als einen Vater der Lüge abzuconterfeien, und dieser eine Zeitungsartikel hatte nun seit Jahresfrist ein Motiv ab- <TEI> <text> <body> <div> <div> <p><pb facs="#f0124" n="110"/> Arbeit von der Stirn zu wischen. Neben ihm, den Rücken an den Laternenpfosten gelehnt, stand ein Siebziger von fast patriarchalischem Ansehn. Er war blind und von noblen Gesichtszügen; sein weißes Haar, das bis auf die Schultern herabhing, bewegte sich leis im Winde; dazu spielte um seinen Mund jener leise Zug von Humor und List, dem man so oft an alten Judenköpfen zu begegnen pflegt. Beide Männer waren in der That Juden, aber jener Sekte zugehörig, die unter dem Namen der „Christ-Israeliten“ in Amerika und England eine Art von Notorität erlangt hat. Die Kleidung beider Männer war gleich und trug dazu bei den Reiz des Bildes zu erhöhen. Olivenfarbene Weste und Beinkleider, dunkelblaue Röcke mit großen Knöpfen, schwere Schuhe und weiße, niedrige Felbel-Hüte, dazu Berloques und allerhand Uhrbehang, der bei dem Mann auf der Fußbank wie ein Schlüsselbund klapperte, während er bei dem Alten in ruhigen Pendelschwingungen sich <choice><sic> </sic><corr>hin</corr></choice> und her bewegte. Was war nun der Inhalt der mit immer wachsender Stimme herausgepolterten Rede? Nichts als Vertheidigung seiner Sekte und seiner Person gegen die Angriffe einer in Leeds erscheinenden Zeitung. Die <hi rendition="#aq"><foreign xml:lang="eng">Leeds-Times</foreign></hi> (wie ich vermuthe, mit nur allzu großem Recht) hatte <hi rendition="#g">funfzehn</hi> Monate früher Gelegenheit genommen, den ganzen Christ-Israelitismus als eine großartige Prellerei und denselben John-Wroe, der da eben vor uns stand, als einen Vater der Lüge abzuconterfeien, und dieser <hi rendition="#g">eine</hi> Zeitungsartikel hatte nun seit Jahresfrist ein Motiv ab-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [110/0124]
Arbeit von der Stirn zu wischen. Neben ihm, den Rücken an den Laternenpfosten gelehnt, stand ein Siebziger von fast patriarchalischem Ansehn. Er war blind und von noblen Gesichtszügen; sein weißes Haar, das bis auf die Schultern herabhing, bewegte sich leis im Winde; dazu spielte um seinen Mund jener leise Zug von Humor und List, dem man so oft an alten Judenköpfen zu begegnen pflegt. Beide Männer waren in der That Juden, aber jener Sekte zugehörig, die unter dem Namen der „Christ-Israeliten“ in Amerika und England eine Art von Notorität erlangt hat. Die Kleidung beider Männer war gleich und trug dazu bei den Reiz des Bildes zu erhöhen. Olivenfarbene Weste und Beinkleider, dunkelblaue Röcke mit großen Knöpfen, schwere Schuhe und weiße, niedrige Felbel-Hüte, dazu Berloques und allerhand Uhrbehang, der bei dem Mann auf der Fußbank wie ein Schlüsselbund klapperte, während er bei dem Alten in ruhigen Pendelschwingungen sich hin und her bewegte. Was war nun der Inhalt der mit immer wachsender Stimme herausgepolterten Rede? Nichts als Vertheidigung seiner Sekte und seiner Person gegen die Angriffe einer in Leeds erscheinenden Zeitung. Die Leeds-Times (wie ich vermuthe, mit nur allzu großem Recht) hatte funfzehn Monate früher Gelegenheit genommen, den ganzen Christ-Israelitismus als eine großartige Prellerei und denselben John-Wroe, der da eben vor uns stand, als einen Vater der Lüge abzuconterfeien, und dieser eine Zeitungsartikel hatte nun seit Jahresfrist ein Motiv ab-
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Zitationshilfe: | Fontane, Theodor: Jenseit des Tweed. Bilder und Briefe aus Schottland. Berlin, 1860, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_tweed_1860/124>, abgerufen am 22.07.2024. |