Fontane, Theodor: Jenseit des Tweed. Bilder und Briefe aus Schottland. Berlin, 1860.allen ähnlichen Geschichten die populärste geworden ist. Major Weir hatte bei Dunbar gefochten, er galt für tapfer, aber seine Tapferkeit war nichts im Vergleich zu seiner Frömmigkeit. Das puritanische Edinburg verehrte ihn wie einen Heiligen. Er war unverheirathet und bewohnte ein Haus in Westbow. Mit ihm war seine Schwester Griseldis, gewöhnlich "die alte Grissel" genannt. Er kleidete sich schwarz, predigte in Versammlungen und beherrschte die Stadt durch seinen Einfluß. Nur eins fiel auf: er pflegte einen langen, schwarzen Stab zu tragen; so lang er diesen in Händen hielt, war er feurig, beredt, hinreißend, so wie er ihn hinweg that, erschien er alt und hinfällig. Von diesem Stabe gingen Wundergeschichten um. Eines Tages erschien Major Weir vor dem obersten Richter und erhob Anklage gegen sich selbst. Die Richter wollten nicht glauben und wiesen ihn ab. Er beharrte bei seiner Aussage und gab allen ähnlichen Geschichten die populärste geworden ist. Major Weir hatte bei Dunbar gefochten, er galt für tapfer, aber seine Tapferkeit war nichts im Vergleich zu seiner Frömmigkeit. Das puritanische Edinburg verehrte ihn wie einen Heiligen. Er war unverheirathet und bewohnte ein Haus in Westbow. Mit ihm war seine Schwester Griseldis, gewöhnlich „die alte Grissel“ genannt. Er kleidete sich schwarz, predigte in Versammlungen und beherrschte die Stadt durch seinen Einfluß. Nur eins fiel auf: er pflegte einen langen, schwarzen Stab zu tragen; so lang er diesen in Händen hielt, war er feurig, beredt, hinreißend, so wie er ihn hinweg that, erschien er alt und hinfällig. Von diesem Stabe gingen Wundergeschichten um. Eines Tages erschien Major Weir vor dem obersten Richter und erhob Anklage gegen sich selbst. Die Richter wollten nicht glauben und wiesen ihn ab. Er beharrte bei seiner Aussage und gab <TEI> <text> <body> <div> <div> <p><pb facs="#f0115" n="101"/> allen ähnlichen Geschichten die populärste geworden ist. Major Weir hatte bei Dunbar gefochten, er galt für tapfer, aber seine Tapferkeit war nichts im Vergleich zu seiner Frömmigkeit. Das puritanische Edinburg verehrte ihn wie einen Heiligen. Er war unverheirathet und bewohnte ein Haus in Westbow. Mit ihm war seine Schwester Griseldis, gewöhnlich „die alte Grissel“ genannt. Er kleidete sich schwarz, predigte in Versammlungen und beherrschte die Stadt durch seinen Einfluß. Nur eins fiel auf: er pflegte einen langen, schwarzen Stab zu tragen; so lang er diesen in Händen hielt, war er feurig, beredt, hinreißend, so wie er ihn hinweg that, erschien er alt und hinfällig. Von diesem Stabe gingen Wundergeschichten um. Eines Tages erschien Major Weir vor dem obersten Richter und erhob Anklage <hi rendition="#g">gegen sich selbst</hi>. Die Richter wollten nicht glauben und wiesen ihn ab. Er beharrte bei seiner Aussage und gab<lb/> solche Details, daß man zu seiner Verhaftung schreiten mußte. Der Prozeß ward eingeleitet, unerhörte Dinge kamen ans Licht; Betrug, Mord, Unzucht und jede Form nächtlicher Orgien. Bei einer späteren Revision der Prozeßakten hat man alles ins Gebiet des Wahnsinns, der Fiktion und Uebertreibung verweisen wollen. Das ist immer das bequemste. Die Zeitgenossen aber glaubten an die volle Wirklichkeit der Dinge und drängten sich mitleidslos um den Holzstoß herum, auf dem das Geschwisterpaar verbrannt werden sollte. Grissel Weir riß sich die Kleider vom Leibe, um, wie sie schrie, „in<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [101/0115]
allen ähnlichen Geschichten die populärste geworden ist. Major Weir hatte bei Dunbar gefochten, er galt für tapfer, aber seine Tapferkeit war nichts im Vergleich zu seiner Frömmigkeit. Das puritanische Edinburg verehrte ihn wie einen Heiligen. Er war unverheirathet und bewohnte ein Haus in Westbow. Mit ihm war seine Schwester Griseldis, gewöhnlich „die alte Grissel“ genannt. Er kleidete sich schwarz, predigte in Versammlungen und beherrschte die Stadt durch seinen Einfluß. Nur eins fiel auf: er pflegte einen langen, schwarzen Stab zu tragen; so lang er diesen in Händen hielt, war er feurig, beredt, hinreißend, so wie er ihn hinweg that, erschien er alt und hinfällig. Von diesem Stabe gingen Wundergeschichten um. Eines Tages erschien Major Weir vor dem obersten Richter und erhob Anklage gegen sich selbst. Die Richter wollten nicht glauben und wiesen ihn ab. Er beharrte bei seiner Aussage und gab
solche Details, daß man zu seiner Verhaftung schreiten mußte. Der Prozeß ward eingeleitet, unerhörte Dinge kamen ans Licht; Betrug, Mord, Unzucht und jede Form nächtlicher Orgien. Bei einer späteren Revision der Prozeßakten hat man alles ins Gebiet des Wahnsinns, der Fiktion und Uebertreibung verweisen wollen. Das ist immer das bequemste. Die Zeitgenossen aber glaubten an die volle Wirklichkeit der Dinge und drängten sich mitleidslos um den Holzstoß herum, auf dem das Geschwisterpaar verbrannt werden sollte. Grissel Weir riß sich die Kleider vom Leibe, um, wie sie schrie, „in
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_tweed_1860 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_tweed_1860/115 |
Zitationshilfe: | Fontane, Theodor: Jenseit des Tweed. Bilder und Briefe aus Schottland. Berlin, 1860, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_tweed_1860/115>, abgerufen am 22.07.2024. |