Fontane, Theodor: Jenseit des Tweed. Bilder und Briefe aus Schottland. Berlin, 1860.Haus in unmittelbarer Nähe von High-Street, das bis auf diesen Tag verfallen und öde dasteht, hat doch Anspruch darauf, hier seine Geschichte erzählt zu sehn. Auf mich hat sie Eindruck gemacht, weil so wenig Apparat darin sichtbar ist. Das Haus, das ich meine, steht auf einem Platze, der Lawn-Market heißt. Die Bewohner, schlichte Leute, hatten sich Gäste geladen, ein paar Freunde und Verwandte. Es war am hellen, lichten Tag, die Wanduhr setzte eben ein, um zwölf zu schlagen, der Tisch war gedeckt und im Kamin knisterte das Feuer. Jeder nahm seinen Sitz und der Hausherr begann das Gebet zu sprechen. Als er bis an die Worte gekommen war: "führe uns nicht in Versuchung" öffnete sich eine Stelle in der Wand, wo Niemand zuvor eine Thür gesehen hatte, und eine Frauengestalt trat daraus hervor. Sie schüttelte den Kopf, wies auf eine Stelle am Boden, und schritt halb abgewandt, wie im Bewußtsein ihrer Schuld, der Stelle zu, auf die sie zuvor gezeigt hatte. Alle Anwesenden, Gäste und Bewohner, flohen entsetzt aus dem Hause. Hundert Jahre und mehr sind seit jenem gestörten Mittagsmahle vergangen, eben so lange steht das Haus verschlossen und leer. Niemand bis jetzt hat sich gefunden, der Lust gehabt hätte den Schlüssel im rostigen Schloß zu drehen und nachzusehen, ob der Tisch dort oben noch gedeckt sei oder nicht. Eine andere Geschichte ist die vom Major Weir. Sie hat mehr historisches Fundament, mehr bestimmte Namen, mehr Lokalton, das mag der Grund sein, daß sie unter Haus in unmittelbarer Nähe von High-Street, das bis auf diesen Tag verfallen und öde dasteht, hat doch Anspruch darauf, hier seine Geschichte erzählt zu sehn. Auf mich hat sie Eindruck gemacht, weil so wenig Apparat darin sichtbar ist. Das Haus, das ich meine, steht auf einem Platze, der Lawn-Market heißt. Die Bewohner, schlichte Leute, hatten sich Gäste geladen, ein paar Freunde und Verwandte. Es war am hellen, lichten Tag, die Wanduhr setzte eben ein, um zwölf zu schlagen, der Tisch war gedeckt und im Kamin knisterte das Feuer. Jeder nahm seinen Sitz und der Hausherr begann das Gebet zu sprechen. Als er bis an die Worte gekommen war: „führe uns nicht in Versuchung“ öffnete sich eine Stelle in der Wand, wo Niemand zuvor eine Thür gesehen hatte, und eine Frauengestalt trat daraus hervor. Sie schüttelte den Kopf, wies auf eine Stelle am Boden, und schritt halb abgewandt, wie im Bewußtsein ihrer Schuld, der Stelle zu, auf die sie zuvor gezeigt hatte. Alle Anwesenden, Gäste und Bewohner, flohen entsetzt aus dem Hause. Hundert Jahre und mehr sind seit jenem gestörten Mittagsmahle vergangen, eben so lange steht das Haus verschlossen und leer. Niemand bis jetzt hat sich gefunden, der Lust gehabt hätte den Schlüssel im rostigen Schloß zu drehen und nachzusehen, ob der Tisch dort oben noch gedeckt sei oder nicht. Eine andere Geschichte ist die vom Major Weir. Sie hat mehr historisches Fundament, mehr bestimmte Namen, mehr Lokalton, das mag der Grund sein, daß sie unter <TEI> <text> <body> <div> <div> <p><pb facs="#f0114" n="100"/> Haus in unmittelbarer Nähe von High-Street, das bis auf diesen Tag verfallen und öde dasteht, hat doch Anspruch darauf, hier seine Geschichte erzählt zu sehn. Auf mich hat sie Eindruck gemacht, weil so wenig Apparat darin sichtbar ist. Das Haus, das ich meine, steht auf einem Platze, der Lawn-Market heißt. Die Bewohner, schlichte Leute, hatten sich Gäste geladen, ein paar Freunde und Verwandte. Es war am hellen, lichten Tag, die Wanduhr setzte eben ein, um zwölf zu schlagen, der Tisch war gedeckt und im Kamin knisterte das Feuer. Jeder nahm seinen Sitz und der Hausherr begann das Gebet zu sprechen. Als er bis an die Worte gekommen war: „führe uns nicht in Versuchung“ öffnete sich eine Stelle in der Wand, wo Niemand zuvor eine Thür gesehen hatte, und eine Frauengestalt trat daraus hervor. Sie schüttelte den Kopf, wies auf eine Stelle am Boden, und schritt halb abgewandt, wie im Bewußtsein ihrer Schuld, der Stelle zu, auf <choice><sic> </sic><corr>die</corr></choice> sie zuvor gezeigt hatte. Alle Anwesenden, Gäste und Bewohner, flohen entsetzt aus dem Hause. Hundert Jahre und mehr sind seit jenem gestörten Mittagsmahle vergangen, eben so lange steht das Haus verschlossen und leer. Niemand bis jetzt hat sich gefunden, der Lust gehabt hätte den Schlüssel im rostigen Schloß zu drehen und nachzusehen, ob der Tisch dort oben noch gedeckt sei oder nicht. </p><lb/> <p>Eine andere Geschichte ist die vom Major Weir. Sie hat mehr historisches Fundament, mehr bestimmte Namen, mehr Lokalton, das mag der Grund sein, daß sie unter<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [100/0114]
Haus in unmittelbarer Nähe von High-Street, das bis auf diesen Tag verfallen und öde dasteht, hat doch Anspruch darauf, hier seine Geschichte erzählt zu sehn. Auf mich hat sie Eindruck gemacht, weil so wenig Apparat darin sichtbar ist. Das Haus, das ich meine, steht auf einem Platze, der Lawn-Market heißt. Die Bewohner, schlichte Leute, hatten sich Gäste geladen, ein paar Freunde und Verwandte. Es war am hellen, lichten Tag, die Wanduhr setzte eben ein, um zwölf zu schlagen, der Tisch war gedeckt und im Kamin knisterte das Feuer. Jeder nahm seinen Sitz und der Hausherr begann das Gebet zu sprechen. Als er bis an die Worte gekommen war: „führe uns nicht in Versuchung“ öffnete sich eine Stelle in der Wand, wo Niemand zuvor eine Thür gesehen hatte, und eine Frauengestalt trat daraus hervor. Sie schüttelte den Kopf, wies auf eine Stelle am Boden, und schritt halb abgewandt, wie im Bewußtsein ihrer Schuld, der Stelle zu, auf die sie zuvor gezeigt hatte. Alle Anwesenden, Gäste und Bewohner, flohen entsetzt aus dem Hause. Hundert Jahre und mehr sind seit jenem gestörten Mittagsmahle vergangen, eben so lange steht das Haus verschlossen und leer. Niemand bis jetzt hat sich gefunden, der Lust gehabt hätte den Schlüssel im rostigen Schloß zu drehen und nachzusehen, ob der Tisch dort oben noch gedeckt sei oder nicht.
Eine andere Geschichte ist die vom Major Weir. Sie hat mehr historisches Fundament, mehr bestimmte Namen, mehr Lokalton, das mag der Grund sein, daß sie unter
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Zitationshilfe: | Fontane, Theodor: Jenseit des Tweed. Bilder und Briefe aus Schottland. Berlin, 1860, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_tweed_1860/114>, abgerufen am 22.07.2024. |