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Fontane, Theodor: Der Stechlin. Berlin, 1899.

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"Nein, Herr von Szilagy, so tief ließ mich die
Gnade nicht sinken. Aber ich treibe mein Wesen über
dem Strich, und wenn man so Wand an Wand wohnt,
da weiß man doch einigermaßen, wie's bei dem Nachbar
aussieht. Ach, und außerdem, wie so mancher hat mir sein
Herz ausgeschüttet und mir dabei seine liebe Not geklagt!
Wer's nicht leicht nimmt, der ist verloren. Roman,
Erzählung, Kriminalgeschichte. Jeder, der der großen
Masse genügen will, muß ein Loch zurückstecken. Und
wenn er das redlich gethan hat, dann immer noch eins.
Es giebt eine Normalnovelle. Etwa so: tiefverschuldeter
adeliger Assessor und ,Sommerleutnant' liebt Gouver¬
nante von stupender Tugend, so stupende, daß sie, wenn
geprüft, selbst auf diesem schwierigsten Gebiete bestehen
würde. Plötzlich aber ist ein alter Onkel da, der den
halb entgleisten Neffen an eine reiche Cousine standes¬
gemäß zu verheiraten wünscht. Höhe der Situation!
Drohendster Konflikt. Aber in diesem bedrängten Moment
entsagt die Cousine nicht nur, sondern vermacht ihrer
Rivalin auch ihr Gesamtvermögen. Und wenn sie nicht
gestorben sind, so leben sie heute noch ... Ja, Herr von
Szilagy, wollen Sie damit konkurrieren?"

Alles stimmte zu; nur Baron Planta meinte:
"Dr. Pusch, pardon, aber ich glaube beinah', Sie über¬
treiben. Und Sie wissen es auch."

Pusch lachte: "Wenn man etwas derart sagt, über¬
treibt man immer. Wer ängstlich abwägt, sagt gar
nichts. Nur die scharfe Zeichnung, die schon die Karri¬
katur streift, macht eine Wirkung. Glauben Sie, daß
Peter von Amiens den ersten Kreuzzug zusammen ge¬
trommelt hätte, wenn er so etwa beim Erdbeerpflücken
einem Freunde mitgeteilt hätte, das Grab Christi sei
vernachlässigt, und es müsse für ein Gitter gesorgt
werden?!"

"Sehr gutt, sehr gutt."

„Nein, Herr von Szilagy, ſo tief ließ mich die
Gnade nicht ſinken. Aber ich treibe mein Weſen über
dem Strich, und wenn man ſo Wand an Wand wohnt,
da weiß man doch einigermaßen, wie's bei dem Nachbar
ausſieht. Ach, und außerdem, wie ſo mancher hat mir ſein
Herz ausgeſchüttet und mir dabei ſeine liebe Not geklagt!
Wer's nicht leicht nimmt, der iſt verloren. Roman,
Erzählung, Kriminalgeſchichte. Jeder, der der großen
Maſſe genügen will, muß ein Loch zurückſtecken. Und
wenn er das redlich gethan hat, dann immer noch eins.
Es giebt eine Normalnovelle. Etwa ſo: tiefverſchuldeter
adeliger Aſſeſſor und ‚Sommerleutnant‘ liebt Gouver¬
nante von ſtupender Tugend, ſo ſtupende, daß ſie, wenn
geprüft, ſelbſt auf dieſem ſchwierigſten Gebiete beſtehen
würde. Plötzlich aber iſt ein alter Onkel da, der den
halb entgleiſten Neffen an eine reiche Couſine ſtandes¬
gemäß zu verheiraten wünſcht. Höhe der Situation!
Drohendſter Konflikt. Aber in dieſem bedrängten Moment
entſagt die Couſine nicht nur, ſondern vermacht ihrer
Rivalin auch ihr Geſamtvermögen. Und wenn ſie nicht
geſtorben ſind, ſo leben ſie heute noch ... Ja, Herr von
Szilagy, wollen Sie damit konkurrieren?“

Alles ſtimmte zu; nur Baron Planta meinte:
Dr. Puſch, pardon, aber ich glaube beinah', Sie über¬
treiben. Und Sie wiſſen es auch.“

Puſch lachte: „Wenn man etwas derart ſagt, über¬
treibt man immer. Wer ängſtlich abwägt, ſagt gar
nichts. Nur die ſcharfe Zeichnung, die ſchon die Karri¬
katur ſtreift, macht eine Wirkung. Glauben Sie, daß
Peter von Amiens den erſten Kreuzzug zuſammen ge¬
trommelt hätte, wenn er ſo etwa beim Erdbeerpflücken
einem Freunde mitgeteilt hätte, das Grab Chriſti ſei
vernachläſſigt, und es müſſe für ein Gitter geſorgt
werden?!“

„Sehr gutt, ſehr gutt.“

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[396/0403] „Nein, Herr von Szilagy, ſo tief ließ mich die Gnade nicht ſinken. Aber ich treibe mein Weſen über dem Strich, und wenn man ſo Wand an Wand wohnt, da weiß man doch einigermaßen, wie's bei dem Nachbar ausſieht. Ach, und außerdem, wie ſo mancher hat mir ſein Herz ausgeſchüttet und mir dabei ſeine liebe Not geklagt! Wer's nicht leicht nimmt, der iſt verloren. Roman, Erzählung, Kriminalgeſchichte. Jeder, der der großen Maſſe genügen will, muß ein Loch zurückſtecken. Und wenn er das redlich gethan hat, dann immer noch eins. Es giebt eine Normalnovelle. Etwa ſo: tiefverſchuldeter adeliger Aſſeſſor und ‚Sommerleutnant‘ liebt Gouver¬ nante von ſtupender Tugend, ſo ſtupende, daß ſie, wenn geprüft, ſelbſt auf dieſem ſchwierigſten Gebiete beſtehen würde. Plötzlich aber iſt ein alter Onkel da, der den halb entgleiſten Neffen an eine reiche Couſine ſtandes¬ gemäß zu verheiraten wünſcht. Höhe der Situation! Drohendſter Konflikt. Aber in dieſem bedrängten Moment entſagt die Couſine nicht nur, ſondern vermacht ihrer Rivalin auch ihr Geſamtvermögen. Und wenn ſie nicht geſtorben ſind, ſo leben ſie heute noch ... Ja, Herr von Szilagy, wollen Sie damit konkurrieren?“ Alles ſtimmte zu; nur Baron Planta meinte: „Dr. Puſch, pardon, aber ich glaube beinah', Sie über¬ treiben. Und Sie wiſſen es auch.“ Puſch lachte: „Wenn man etwas derart ſagt, über¬ treibt man immer. Wer ängſtlich abwägt, ſagt gar nichts. Nur die ſcharfe Zeichnung, die ſchon die Karri¬ katur ſtreift, macht eine Wirkung. Glauben Sie, daß Peter von Amiens den erſten Kreuzzug zuſammen ge¬ trommelt hätte, wenn er ſo etwa beim Erdbeerpflücken einem Freunde mitgeteilt hätte, das Grab Chriſti ſei vernachläſſigt, und es müſſe für ein Gitter geſorgt werden?!“ „Sehr gutt, ſehr gutt.“

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Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Der Stechlin. Berlin, 1899, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_stechlin_1899/403>, abgerufen am 22.11.2024.