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Fontane, Theodor: Der Stechlin. Berlin, 1899.

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"Ei," sagte Melusine. "So bin ich zum Erzählen
noch mein Lebtag nicht aufgefordert worden. Nun wirst
du sprechen müssen, Armgard."

"Und ich will auch, selbst auf die Gefahr hin
einer Niederlage."

"Keine Vorreden, Armgard. Am wenigsten, wenn
sie wie Selbstlob klingen."

"Also wir hatten damals eine alte Person im
Hause, die schon bei Melusine Kindermuhme gewesen
war, und hieß Susan. Ich liebte sie sehr, denn sie
hatte wie die meisten Irischen etwas ungemein Heiteres
und Gütiges. Ich ging viel mit ihr im Hydepark
spazieren, wohnten wir doch in der an seiner Nordseite
sich hinziehenden großen Straße. Hydepark erschien mir
immer sehr schön. Aber weil es tagaus tagein dasselbe
war, wollt' ich doch gern einmal was andres sehen,
worauf Susan auch gleich einging, trotzdem es ihr
eigentlich verboten war. ,Ei freilich, Comtesse,' sagte sie,
,da wollen wir nach Martins le Grand.' ,Was ist das?'
fragte ich; aber statt aller Antwort gab sie mir nur ein
kleines Mäntelchen um, denn es war schon Spätherbst,
so etwa wie jetzt, und dunkelte auch schon. Aus dem,
was dann kam, muß ich annehmen, daß es um die
fünfte Stunde war. Und so brachen wir denn auf,
unsre Straße hinunter, und weil an dem Parkgitter ent¬
lang lauter große Röhren gelegt waren, um hier neu
zu kanalisieren, so sprang ich auf die Röhren hinauf,
und Susan hielt mich an meinem linken Zeigefinger.
So gingen wir, ich immer auf den Röhren oben, bis
wir an eine Stelle kamen, wo der Park aufhörte. Hier
war gerad' ein Droschkenstand, und Hafer und Häcksel
lagen umher und zahllose Sperlinge dazwischen. In
der Mitte von dem allem aber stand ein eiserner Brunnen.
Auf den wies Susan hin und sagte: ,Look at it, dear
Armgard
. There stood Tyburn-Gallows.' Und wer

„Ei,“ ſagte Meluſine. „So bin ich zum Erzählen
noch mein Lebtag nicht aufgefordert worden. Nun wirſt
du ſprechen müſſen, Armgard.“

„Und ich will auch, ſelbſt auf die Gefahr hin
einer Niederlage.“

„Keine Vorreden, Armgard. Am wenigſten, wenn
ſie wie Selbſtlob klingen.“

„Alſo wir hatten damals eine alte Perſon im
Hauſe, die ſchon bei Meluſine Kindermuhme geweſen
war, und hieß Suſan. Ich liebte ſie ſehr, denn ſie
hatte wie die meiſten Iriſchen etwas ungemein Heiteres
und Gütiges. Ich ging viel mit ihr im Hydepark
ſpazieren, wohnten wir doch in der an ſeiner Nordſeite
ſich hinziehenden großen Straße. Hydepark erſchien mir
immer ſehr ſchön. Aber weil es tagaus tagein dasſelbe
war, wollt' ich doch gern einmal was andres ſehen,
worauf Suſan auch gleich einging, trotzdem es ihr
eigentlich verboten war. ‚Ei freilich, Comteſſe,‘ ſagte ſie,
‚da wollen wir nach Martins le Grand.‘ ‚Was iſt das?‘
fragte ich; aber ſtatt aller Antwort gab ſie mir nur ein
kleines Mäntelchen um, denn es war ſchon Spätherbſt,
ſo etwa wie jetzt, und dunkelte auch ſchon. Aus dem,
was dann kam, muß ich annehmen, daß es um die
fünfte Stunde war. Und ſo brachen wir denn auf,
unſre Straße hinunter, und weil an dem Parkgitter ent¬
lang lauter große Röhren gelegt waren, um hier neu
zu kanaliſieren, ſo ſprang ich auf die Röhren hinauf,
und Suſan hielt mich an meinem linken Zeigefinger.
So gingen wir, ich immer auf den Röhren oben, bis
wir an eine Stelle kamen, wo der Park aufhörte. Hier
war gerad' ein Droſchkenſtand, und Hafer und Häckſel
lagen umher und zahlloſe Sperlinge dazwiſchen. In
der Mitte von dem allem aber ſtand ein eiſerner Brunnen.
Auf den wies Suſan hin und ſagte: ‚Look at it, dear
Armgard
. There stood Tyburn-Gallows.‘ Und wer

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[283/0290] „Ei,“ ſagte Meluſine. „So bin ich zum Erzählen noch mein Lebtag nicht aufgefordert worden. Nun wirſt du ſprechen müſſen, Armgard.“ „Und ich will auch, ſelbſt auf die Gefahr hin einer Niederlage.“ „Keine Vorreden, Armgard. Am wenigſten, wenn ſie wie Selbſtlob klingen.“ „Alſo wir hatten damals eine alte Perſon im Hauſe, die ſchon bei Meluſine Kindermuhme geweſen war, und hieß Suſan. Ich liebte ſie ſehr, denn ſie hatte wie die meiſten Iriſchen etwas ungemein Heiteres und Gütiges. Ich ging viel mit ihr im Hydepark ſpazieren, wohnten wir doch in der an ſeiner Nordſeite ſich hinziehenden großen Straße. Hydepark erſchien mir immer ſehr ſchön. Aber weil es tagaus tagein dasſelbe war, wollt' ich doch gern einmal was andres ſehen, worauf Suſan auch gleich einging, trotzdem es ihr eigentlich verboten war. ‚Ei freilich, Comteſſe,‘ ſagte ſie, ‚da wollen wir nach Martins le Grand.‘ ‚Was iſt das?‘ fragte ich; aber ſtatt aller Antwort gab ſie mir nur ein kleines Mäntelchen um, denn es war ſchon Spätherbſt, ſo etwa wie jetzt, und dunkelte auch ſchon. Aus dem, was dann kam, muß ich annehmen, daß es um die fünfte Stunde war. Und ſo brachen wir denn auf, unſre Straße hinunter, und weil an dem Parkgitter ent¬ lang lauter große Röhren gelegt waren, um hier neu zu kanaliſieren, ſo ſprang ich auf die Röhren hinauf, und Suſan hielt mich an meinem linken Zeigefinger. So gingen wir, ich immer auf den Röhren oben, bis wir an eine Stelle kamen, wo der Park aufhörte. Hier war gerad' ein Droſchkenſtand, und Hafer und Häckſel lagen umher und zahlloſe Sperlinge dazwiſchen. In der Mitte von dem allem aber ſtand ein eiſerner Brunnen. Auf den wies Suſan hin und ſagte: ‚Look at it, dear Armgard. There stood Tyburn-Gallows.‘ Und wer

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Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Der Stechlin. Berlin, 1899, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_stechlin_1899/290>, abgerufen am 22.11.2024.