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Fontane, Theodor: Der Stechlin. Berlin, 1899.

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und bleibt das Beste. Die Themse hinauf und hinunter,
Richmond-Hill (auch jetzt noch, trotzdem wir schon No¬
vember haben) und Werbekneipen und Dudelsackspfeifer.
Und wenn Sie bei Passierung eines stillen Squares einem
sogenannten ,Straßen-Raffael' begegnen, dann stehen
bleiben und zusehen, was das sonderbare Genie mit
seiner linken und oft verkrüppelten Hand auf die breiten
Straßensteine hinmalt. Denn diese Straßen-Raffaels
haben immer nur eine linke Hand."

"Und was malt er?"

"Was? Das wechselt. Er ist im stande und zaubert
Ihnen in zehn Minuten eine richtige Sixtina aufs
Trottoir. Aber in der Regel ist er mehr Ruysdael oder
Hobbema. Landschaften sind seine Force; dazu See¬
stücke. Die Klippe von Dover hab' ich wohl zwanzig¬
mal gesehn und über das Meer hin den zitternden
Mondstrahl. Da haben Sie schon was zur Auswahl.
Und nun fragen Sie Melusine. Die hat von London
und Umgegend viel mehr gesehn als ich und weiß, glaub'
ich, in Hampton-Court und Waltham-Abbey besser
Bescheid als an der Oberspree, natürlich das Eierhäuschen
ausgenommen. Und wenn Melusine versagen sollte, nun,
so haben wir ja noch unsere Tochter Cordelia. Cordelia
war damals freilich erst sechs oder doch nicht viel mehr.
Aber Kindermund thut Wahrheit kund. Armgard, wie
wär' es, wenn du dich unsers Freundes annähmest."

"Ich weiß nicht, Papa, ob Herr von Stechlin da¬
mit einverstanden ist oder auch nur sein kann. Viel¬
leicht ging' es, wenn du nur nicht von meinen sechs
Jahren gesprochen hättest. Aber so. Mit sechs Jahren
hat man eben nichts erlebt, was, in den Augen andrer,
des Erzählens wert wäre."

"Comtesse, gestatten Sie mir ... die Dinge an
sich sind gleichgültig. Alles Erlebte wird erst was durch
den, der es erlebt."

und bleibt das Beſte. Die Themſe hinauf und hinunter,
Richmond-Hill (auch jetzt noch, trotzdem wir ſchon No¬
vember haben) und Werbekneipen und Dudelſackspfeifer.
Und wenn Sie bei Paſſierung eines ſtillen Squares einem
ſogenannten ‚Straßen-Raffael‘ begegnen, dann ſtehen
bleiben und zuſehen, was das ſonderbare Genie mit
ſeiner linken und oft verkrüppelten Hand auf die breiten
Straßenſteine hinmalt. Denn dieſe Straßen-Raffaels
haben immer nur eine linke Hand.“

„Und was malt er?“

„Was? Das wechſelt. Er iſt im ſtande und zaubert
Ihnen in zehn Minuten eine richtige Sixtina aufs
Trottoir. Aber in der Regel iſt er mehr Ruysdael oder
Hobbema. Landſchaften ſind ſeine Force; dazu See¬
ſtücke. Die Klippe von Dover hab' ich wohl zwanzig¬
mal geſehn und über das Meer hin den zitternden
Mondſtrahl. Da haben Sie ſchon was zur Auswahl.
Und nun fragen Sie Meluſine. Die hat von London
und Umgegend viel mehr geſehn als ich und weiß, glaub'
ich, in Hampton-Court und Waltham-Abbey beſſer
Beſcheid als an der Oberſpree, natürlich das Eierhäuschen
ausgenommen. Und wenn Meluſine verſagen ſollte, nun,
ſo haben wir ja noch unſere Tochter Cordelia. Cordelia
war damals freilich erſt ſechs oder doch nicht viel mehr.
Aber Kindermund thut Wahrheit kund. Armgard, wie
wär' es, wenn du dich unſers Freundes annähmeſt.“

„Ich weiß nicht, Papa, ob Herr von Stechlin da¬
mit einverſtanden iſt oder auch nur ſein kann. Viel¬
leicht ging' es, wenn du nur nicht von meinen ſechs
Jahren geſprochen hätteſt. Aber ſo. Mit ſechs Jahren
hat man eben nichts erlebt, was, in den Augen andrer,
des Erzählens wert wäre.“

„Comteſſe, geſtatten Sie mir ... die Dinge an
ſich ſind gleichgültig. Alles Erlebte wird erſt was durch
den, der es erlebt.“

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[282/0289] und bleibt das Beſte. Die Themſe hinauf und hinunter, Richmond-Hill (auch jetzt noch, trotzdem wir ſchon No¬ vember haben) und Werbekneipen und Dudelſackspfeifer. Und wenn Sie bei Paſſierung eines ſtillen Squares einem ſogenannten ‚Straßen-Raffael‘ begegnen, dann ſtehen bleiben und zuſehen, was das ſonderbare Genie mit ſeiner linken und oft verkrüppelten Hand auf die breiten Straßenſteine hinmalt. Denn dieſe Straßen-Raffaels haben immer nur eine linke Hand.“ „Und was malt er?“ „Was? Das wechſelt. Er iſt im ſtande und zaubert Ihnen in zehn Minuten eine richtige Sixtina aufs Trottoir. Aber in der Regel iſt er mehr Ruysdael oder Hobbema. Landſchaften ſind ſeine Force; dazu See¬ ſtücke. Die Klippe von Dover hab' ich wohl zwanzig¬ mal geſehn und über das Meer hin den zitternden Mondſtrahl. Da haben Sie ſchon was zur Auswahl. Und nun fragen Sie Meluſine. Die hat von London und Umgegend viel mehr geſehn als ich und weiß, glaub' ich, in Hampton-Court und Waltham-Abbey beſſer Beſcheid als an der Oberſpree, natürlich das Eierhäuschen ausgenommen. Und wenn Meluſine verſagen ſollte, nun, ſo haben wir ja noch unſere Tochter Cordelia. Cordelia war damals freilich erſt ſechs oder doch nicht viel mehr. Aber Kindermund thut Wahrheit kund. Armgard, wie wär' es, wenn du dich unſers Freundes annähmeſt.“ „Ich weiß nicht, Papa, ob Herr von Stechlin da¬ mit einverſtanden iſt oder auch nur ſein kann. Viel¬ leicht ging' es, wenn du nur nicht von meinen ſechs Jahren geſprochen hätteſt. Aber ſo. Mit ſechs Jahren hat man eben nichts erlebt, was, in den Augen andrer, des Erzählens wert wäre.“ „Comteſſe, geſtatten Sie mir ... die Dinge an ſich ſind gleichgültig. Alles Erlebte wird erſt was durch den, der es erlebt.“

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Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Der Stechlin. Berlin, 1899, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_stechlin_1899/289>, abgerufen am 22.11.2024.