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Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. Leipzig, 1888.

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sie mit kaum geringerer Neugier musterte. Niemand
war augenscheinlich zu Haus als das Kind und die
Dienerin und Lene dankte beiden und erhob sich
und schritt wieder auf die Pforte zu. Das halb¬
wachsene Mädchen aber sah ihr traurig verwundert
nach und es war fast, wie wenn in dem Kinder¬
herzen eine erste Vorstellung von dem Leid des
Lebens gedämmert hätte.

Lene war inzwischen, den Fahrdamm passirend,
bis an den Kanal gekommen und ging jetzt unten
an der Böschung entlang, wo sie sicher sein durfte,
Niemandem zu begegnen. Von den Kähnen her
blaffte dann und wann ein Spitz und ein dünner
Rauch, weil Mittag war, stieg aus den kleinen
Kajütenschornsteinen auf. Aber sie sah und hörte
nichts oder war wenigstens ohne Bewußtsein dessen,
was um sie her vorging, und erst als jenseits des
Zoologischen die Häuser am Kanal hin aufhörten
und die große Schleuse mit ihrem drüberwegschäu¬
menden Wasser sichtbar wurde, blieb sie stehn und
rang nach Luft. "Ach, wer weinen könnte." Und
sie drückte die Hand gegen Brust und Herz.


Zu Hause traf sie die Mutter an ihrem alten
Platz und setzte sich ihr gegenüber, ohne daß ein
Wort oder Blick zwischen ihnen gewechselt worden

Fontane, Irrungen. 12

ſie mit kaum geringerer Neugier muſterte. Niemand
war augenſcheinlich zu Haus als das Kind und die
Dienerin und Lene dankte beiden und erhob ſich
und ſchritt wieder auf die Pforte zu. Das halb¬
wachſene Mädchen aber ſah ihr traurig verwundert
nach und es war faſt, wie wenn in dem Kinder¬
herzen eine erſte Vorſtellung von dem Leid des
Lebens gedämmert hätte.

Lene war inzwiſchen, den Fahrdamm paſſirend,
bis an den Kanal gekommen und ging jetzt unten
an der Böſchung entlang, wo ſie ſicher ſein durfte,
Niemandem zu begegnen. Von den Kähnen her
blaffte dann und wann ein Spitz und ein dünner
Rauch, weil Mittag war, ſtieg aus den kleinen
Kajütenſchornſteinen auf. Aber ſie ſah und hörte
nichts oder war wenigſtens ohne Bewußtſein deſſen,
was um ſie her vorging, und erſt als jenſeits des
Zoologiſchen die Häuſer am Kanal hin aufhörten
und die große Schleuſe mit ihrem drüberwegſchäu¬
menden Waſſer ſichtbar wurde, blieb ſie ſtehn und
rang nach Luft. „Ach, wer weinen könnte.“ Und
ſie drückte die Hand gegen Bruſt und Herz.


Zu Hauſe traf ſie die Mutter an ihrem alten
Platz und ſetzte ſich ihr gegenüber, ohne daß ein
Wort oder Blick zwiſchen ihnen gewechſelt worden

Fontane, Irrungen. 12
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[177/0187] ſie mit kaum geringerer Neugier muſterte. Niemand war augenſcheinlich zu Haus als das Kind und die Dienerin und Lene dankte beiden und erhob ſich und ſchritt wieder auf die Pforte zu. Das halb¬ wachſene Mädchen aber ſah ihr traurig verwundert nach und es war faſt, wie wenn in dem Kinder¬ herzen eine erſte Vorſtellung von dem Leid des Lebens gedämmert hätte. Lene war inzwiſchen, den Fahrdamm paſſirend, bis an den Kanal gekommen und ging jetzt unten an der Böſchung entlang, wo ſie ſicher ſein durfte, Niemandem zu begegnen. Von den Kähnen her blaffte dann und wann ein Spitz und ein dünner Rauch, weil Mittag war, ſtieg aus den kleinen Kajütenſchornſteinen auf. Aber ſie ſah und hörte nichts oder war wenigſtens ohne Bewußtſein deſſen, was um ſie her vorging, und erſt als jenſeits des Zoologiſchen die Häuſer am Kanal hin aufhörten und die große Schleuſe mit ihrem drüberwegſchäu¬ menden Waſſer ſichtbar wurde, blieb ſie ſtehn und rang nach Luft. „Ach, wer weinen könnte.“ Und ſie drückte die Hand gegen Bruſt und Herz. Zu Hauſe traf ſie die Mutter an ihrem alten Platz und ſetzte ſich ihr gegenüber, ohne daß ein Wort oder Blick zwiſchen ihnen gewechſelt worden Fontane, Irrungen. 12

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Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. Leipzig, 1888, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_irrungen_1888/187>, abgerufen am 24.11.2024.