nicht verwinden und litt unter der Vorstellung, vor ihrem eigenen Kinde geflohen zu sein. Es quälte sie bis zur Beschämung, und das Verlangen nach einer Begegnung mit Annie steigerte sich bis zum Krankhaften. An Innstetten schreiben und ihn darum bitten, das war nicht möglich. Ihrer Schuld war sie sich wohl bewußt, ja, sie nährte das Gefühl davon mit einer halb leidenschaftlichen Geflissentlichkeit; aber inmitten ihres Schuldbewußtseins fühlte sie sich andererseits auch von einer gewissen Auflehnung gegen Innstetten erfüllt. Sie sagte sich: er hatte recht und noch einmal und noch einmal, und zuletzt hatte er doch unrecht. Alles Geschehene lag so weit zurück, ein neues Leben hatte begonnen, -- er hätte es können verbluten lassen, statt dessen verblutete der arme Crampas.
Nein, an Innstetten schreiben, das ging nicht; aber Annie wollte sie sehen und sprechen und an ihr Herz drücken, und nachdem sie's tagelang überlegt hatte, stand ihr fest, wie's am besten zu machen sei.
Gleich am andern Vormittage kleidete sie sich sorgfältig in ein decentes Schwarz und ging auf die Linden zu, sich hier bei der Ministerin melden zu lassen. Sie schickte ihre Karte hinein, auf der nur stand: Effi von Innstetten geb. von Briest. Alles andere war fortgelassen, auch die Baronin.
Effi Brieſt
nicht verwinden und litt unter der Vorſtellung, vor ihrem eigenen Kinde geflohen zu ſein. Es quälte ſie bis zur Beſchämung, und das Verlangen nach einer Begegnung mit Annie ſteigerte ſich bis zum Krankhaften. An Innſtetten ſchreiben und ihn darum bitten, das war nicht möglich. Ihrer Schuld war ſie ſich wohl bewußt, ja, ſie nährte das Gefühl davon mit einer halb leidenſchaftlichen Gefliſſentlichkeit; aber inmitten ihres Schuldbewußtſeins fühlte ſie ſich andererſeits auch von einer gewiſſen Auflehnung gegen Innſtetten erfüllt. Sie ſagte ſich: er hatte recht und noch einmal und noch einmal, und zuletzt hatte er doch unrecht. Alles Geſchehene lag ſo weit zurück, ein neues Leben hatte begonnen, — er hätte es können verbluten laſſen, ſtatt deſſen verblutete der arme Crampas.
Nein, an Innſtetten ſchreiben, das ging nicht; aber Annie wollte ſie ſehen und ſprechen und an ihr Herz drücken, und nachdem ſie's tagelang überlegt hatte, ſtand ihr feſt, wie's am beſten zu machen ſei.
Gleich am andern Vormittage kleidete ſie ſich ſorgfältig in ein decentes Schwarz und ging auf die Linden zu, ſich hier bei der Miniſterin melden zu laſſen. Sie ſchickte ihre Karte hinein, auf der nur ſtand: Effi von Innſtetten geb. von Brieſt. Alles andere war fortgelaſſen, auch die Baronin.
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Effi Brieſt
nicht verwinden und litt unter der Vorſtellung, vor
ihrem eigenen Kinde geflohen zu ſein. Es quälte
ſie bis zur Beſchämung, und das Verlangen nach
einer Begegnung mit Annie ſteigerte ſich bis zum
Krankhaften. An Innſtetten ſchreiben und ihn darum
bitten, das war nicht möglich. Ihrer Schuld war
ſie ſich wohl bewußt, ja, ſie nährte das Gefühl
davon mit einer halb leidenſchaftlichen Gefliſſentlichkeit;
aber inmitten ihres Schuldbewußtſeins fühlte ſie ſich
andererſeits auch von einer gewiſſen Auflehnung
gegen Innſtetten erfüllt. Sie ſagte ſich: er hatte
recht und noch einmal und noch einmal, und zuletzt
hatte er doch unrecht. Alles Geſchehene lag ſo weit
zurück, ein neues Leben hatte begonnen, — er hätte
es können verbluten laſſen, ſtatt deſſen verblutete der
arme Crampas.
Nein, an Innſtetten ſchreiben, das ging nicht;
aber Annie wollte ſie ſehen und ſprechen und an
ihr Herz drücken, und nachdem ſie's tagelang überlegt
hatte, ſtand ihr feſt, wie's am beſten zu machen ſei.
Gleich am andern Vormittage kleidete ſie ſich
ſorgfältig in ein decentes Schwarz und ging auf
die Linden zu, ſich hier bei der Miniſterin melden
zu laſſen. Sie ſchickte ihre Karte hinein, auf der
nur ſtand: Effi von Innſtetten geb. von Brieſt.
Alles andere war fortgelaſſen, auch die Baronin.
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Fontane, Theodor: Effi Briest. Berlin, 1896, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_briest_1896/481>, abgerufen am 16.02.2025.
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