Fontane, Theodor: Effi Briest. Berlin, 1896.Effi Briest an dieser Vorstellung auf und wiederholte sich's, daßes gekommen sei, wie's habe kommen müssen. Aber im selben Augenblicke, wo dies für ihn feststand, warf er's auch wieder um. "Es muß eine Ver¬ jährung geben, Verjährung ist das einzig Vernünftige; ob es nebenher auch noch prosaisch ist, ist gleichgültig; das Vernünftige ist meist prosaisch. Ich bin jetzt fünfundvierzig. Wenn ich die Briefe fünfundzwanzig Jahre später gefunden hätte, so war ich siebzig. Dann hätte Wüllersdorf gesagt: ,Innstetten, seien Sie kein Narr.' Und wenn es Wüllersdorf nicht gesagt hätte, so hätt' es Buddenbrook gesagt, und wenn auch der nicht, so ich selbst. Dies ist mir klar. Treibt man etwas auf die Spitze, so übertreibt man und hat die Lächerlichkeit. Kein Zweifel. Aber wo fängt es an? Wo liegt die Grenze? Zehn Jahre verlangen noch ein Duell, und da heißt es Ehre, und nach elf Jahren oder vielleicht schon bei zehnundeinhalb heißt es Unsinn. Die Grenze, die Grenze. Wo ist sie? War sie da? War sie schon überschritten? Wenn ich mir seinen letzten Blick vergegenwärtige, resigniert und in seinem Elend doch noch ein Lächeln, so hieß der Blick: ,Innstetten, Prinzipienreiterei ... Sie konnten es mir ersparen und sich selber auch.' Und er hatte vielleicht recht. Mir klingt so 'was in der Seele. Ja, wenn ich voll tödlichem Haß gewesen Effi Brieſt an dieſer Vorſtellung auf und wiederholte ſich's, daßes gekommen ſei, wie's habe kommen müſſen. Aber im ſelben Augenblicke, wo dies für ihn feſtſtand, warf er's auch wieder um. „Es muß eine Ver¬ jährung geben, Verjährung iſt das einzig Vernünftige; ob es nebenher auch noch proſaiſch iſt, iſt gleichgültig; das Vernünftige iſt meiſt proſaiſch. Ich bin jetzt fünfundvierzig. Wenn ich die Briefe fünfundzwanzig Jahre ſpäter gefunden hätte, ſo war ich ſiebzig. Dann hätte Wüllersdorf geſagt: ,Innſtetten, ſeien Sie kein Narr.‘ Und wenn es Wüllersdorf nicht geſagt hätte, ſo hätt' es Buddenbrook geſagt, und wenn auch der nicht, ſo ich ſelbſt. Dies iſt mir klar. Treibt man etwas auf die Spitze, ſo übertreibt man und hat die Lächerlichkeit. Kein Zweifel. Aber wo fängt es an? Wo liegt die Grenze? Zehn Jahre verlangen noch ein Duell, und da heißt es Ehre, und nach elf Jahren oder vielleicht ſchon bei zehnundeinhalb heißt es Unſinn. Die Grenze, die Grenze. Wo iſt ſie? War ſie da? War ſie ſchon überſchritten? Wenn ich mir ſeinen letzten Blick vergegenwärtige, reſigniert und in ſeinem Elend doch noch ein Lächeln, ſo hieß der Blick: ,Innſtetten, Prinzipienreiterei … Sie konnten es mir erſparen und ſich ſelber auch.‘ Und er hatte vielleicht recht. Mir klingt ſo 'was in der Seele. Ja, wenn ich voll tödlichem Haß geweſen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0435" n="426"/><fw place="top" type="header">Effi Brieſt<lb/></fw> an dieſer Vorſtellung auf und wiederholte ſich's, daß<lb/> es gekommen ſei, wie's habe kommen müſſen. Aber<lb/> im ſelben Augenblicke, wo dies für ihn feſtſtand,<lb/> warf er's auch wieder um. „Es <hi rendition="#g">muß</hi> eine Ver¬<lb/> jährung geben, Verjährung iſt das einzig Vernünftige;<lb/> ob es nebenher auch noch proſaiſch iſt, iſt gleichgültig;<lb/> das Vernünftige iſt meiſt proſaiſch. Ich bin jetzt<lb/> fünfundvierzig. Wenn ich die Briefe fünfundzwanzig<lb/> Jahre ſpäter gefunden hätte, ſo war ich ſiebzig. Dann<lb/> hätte Wüllersdorf geſagt: ,Innſtetten, ſeien Sie kein<lb/> Narr.‘ Und wenn es Wüllersdorf nicht geſagt hätte,<lb/> ſo hätt' es Buddenbrook geſagt, und wenn auch <hi rendition="#g">der</hi><lb/> nicht, ſo ich ſelbſt. Dies iſt mir klar. Treibt man<lb/> etwas auf die Spitze, ſo übertreibt man und hat die<lb/> Lächerlichkeit. Kein Zweifel. Aber wo fängt es an?<lb/> Wo liegt die Grenze? Zehn Jahre verlangen noch<lb/> ein Duell, und da heißt es Ehre, und nach elf Jahren<lb/> oder vielleicht ſchon bei zehnundeinhalb heißt es<lb/> Unſinn. Die Grenze, die Grenze. Wo iſt ſie?<lb/> War ſie da? War ſie ſchon überſchritten? Wenn<lb/> ich mir ſeinen letzten Blick vergegenwärtige, reſigniert<lb/> und in ſeinem Elend doch noch ein Lächeln, ſo hieß<lb/> der Blick: ,Innſtetten, Prinzipienreiterei … Sie<lb/> konnten es mir erſparen und ſich ſelber auch.‘ Und<lb/> er hatte vielleicht recht. Mir klingt ſo 'was in der<lb/> Seele. Ja, wenn ich voll tödlichem Haß geweſen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [426/0435]
Effi Brieſt
an dieſer Vorſtellung auf und wiederholte ſich's, daß
es gekommen ſei, wie's habe kommen müſſen. Aber
im ſelben Augenblicke, wo dies für ihn feſtſtand,
warf er's auch wieder um. „Es muß eine Ver¬
jährung geben, Verjährung iſt das einzig Vernünftige;
ob es nebenher auch noch proſaiſch iſt, iſt gleichgültig;
das Vernünftige iſt meiſt proſaiſch. Ich bin jetzt
fünfundvierzig. Wenn ich die Briefe fünfundzwanzig
Jahre ſpäter gefunden hätte, ſo war ich ſiebzig. Dann
hätte Wüllersdorf geſagt: ,Innſtetten, ſeien Sie kein
Narr.‘ Und wenn es Wüllersdorf nicht geſagt hätte,
ſo hätt' es Buddenbrook geſagt, und wenn auch der
nicht, ſo ich ſelbſt. Dies iſt mir klar. Treibt man
etwas auf die Spitze, ſo übertreibt man und hat die
Lächerlichkeit. Kein Zweifel. Aber wo fängt es an?
Wo liegt die Grenze? Zehn Jahre verlangen noch
ein Duell, und da heißt es Ehre, und nach elf Jahren
oder vielleicht ſchon bei zehnundeinhalb heißt es
Unſinn. Die Grenze, die Grenze. Wo iſt ſie?
War ſie da? War ſie ſchon überſchritten? Wenn
ich mir ſeinen letzten Blick vergegenwärtige, reſigniert
und in ſeinem Elend doch noch ein Lächeln, ſo hieß
der Blick: ,Innſtetten, Prinzipienreiterei … Sie
konnten es mir erſparen und ſich ſelber auch.‘ Und
er hatte vielleicht recht. Mir klingt ſo 'was in der
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