"Weil es trotzdem sein muß. Ich habe mir's hin und her überlegt. Man ist nicht bloß ein ein¬ zelner Mensch, man gehört einem Ganzen an, und auf das Ganze haben wir beständig Rücksicht zu nehmen, wir sind durchaus abhängig von ihm. Ging' es, in Einsamkeit zu leben, so könnt' ich es gehen lassen; ich trüge dann die mir aufgepackte Last, das rechte Glück wäre hin, aber es müssen so viele leben ohne dies "rechte Glück", und ich würde es auch müssen und -- auch können. Man braucht nicht glücklich zu sein, am allerwenigsten hat man einen Anspruch darauf, und den, der einem das Glück ge¬ nommen hat, den braucht man nicht notwendig aus der Welt zu schaffen. Man kann ihn, wenn man weltabgewandt weiter existieren will, auch laufen lassen. Aber im Zusammenleben mit den Menschen hat sich ein Etwas ausgebildet, das nun 'mal da ist und nach dessen Paragraphen wir uns gewöhnt haben, alles zu beurteilen, die andern und uns selbst. Und dagegen zu verstoßen, geht nicht; die Gesellschaft ver¬ achtet uns, und zuletzt thun wir es selbst und können es nicht aushalten und jagen uns die Kugel durch den Kopf. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen solche Vorlesung halte, die schließlich doch nur sagt, was sich jeder selber hundertmal gesagt hat. Aber freilich, wer kann 'was neues sagen! Also noch einmal,
Effi Brieſt
„Weil es trotzdem ſein muß. Ich habe mir's hin und her überlegt. Man iſt nicht bloß ein ein¬ zelner Menſch, man gehört einem Ganzen an, und auf das Ganze haben wir beſtändig Rückſicht zu nehmen, wir ſind durchaus abhängig von ihm. Ging' es, in Einſamkeit zu leben, ſo könnt' ich es gehen laſſen; ich trüge dann die mir aufgepackte Laſt, das rechte Glück wäre hin, aber es müſſen ſo viele leben ohne dies „rechte Glück“, und ich würde es auch müſſen und — auch können. Man braucht nicht glücklich zu ſein, am allerwenigſten hat man einen Anſpruch darauf, und den, der einem das Glück ge¬ nommen hat, den braucht man nicht notwendig aus der Welt zu ſchaffen. Man kann ihn, wenn man weltabgewandt weiter exiſtieren will, auch laufen laſſen. Aber im Zuſammenleben mit den Menſchen hat ſich ein Etwas ausgebildet, das nun 'mal da iſt und nach deſſen Paragraphen wir uns gewöhnt haben, alles zu beurteilen, die andern und uns ſelbſt. Und dagegen zu verſtoßen, geht nicht; die Geſellſchaft ver¬ achtet uns, und zuletzt thun wir es ſelbſt und können es nicht aushalten und jagen uns die Kugel durch den Kopf. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen ſolche Vorleſung halte, die ſchließlich doch nur ſagt, was ſich jeder ſelber hundertmal geſagt hat. Aber freilich, wer kann 'was neues ſagen! Alſo noch einmal,
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Effi Brieſt
„Weil es trotzdem ſein muß. Ich habe mir's
hin und her überlegt. Man iſt nicht bloß ein ein¬
zelner Menſch, man gehört einem Ganzen an, und
auf das Ganze haben wir beſtändig Rückſicht zu
nehmen, wir ſind durchaus abhängig von ihm. Ging'
es, in Einſamkeit zu leben, ſo könnt' ich es gehen
laſſen; ich trüge dann die mir aufgepackte Laſt, das
rechte Glück wäre hin, aber es müſſen ſo viele leben
ohne dies „rechte Glück“, und ich würde es auch
müſſen und — auch können. Man braucht nicht
glücklich zu ſein, am allerwenigſten hat man einen
Anſpruch darauf, und den, der einem das Glück ge¬
nommen hat, den braucht man nicht notwendig aus
der Welt zu ſchaffen. Man kann ihn, wenn man
weltabgewandt weiter exiſtieren will, auch laufen
laſſen. Aber im Zuſammenleben mit den Menſchen
hat ſich ein Etwas ausgebildet, das nun 'mal da iſt
und nach deſſen Paragraphen wir uns gewöhnt haben,
alles zu beurteilen, die andern und uns ſelbſt. Und
dagegen zu verſtoßen, geht nicht; die Geſellſchaft ver¬
achtet uns, und zuletzt thun wir es ſelbſt und können
es nicht aushalten und jagen uns die Kugel durch
den Kopf. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen ſolche
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Fontane, Theodor: Effi Briest. Berlin, 1896, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_briest_1896/421>, abgerufen am 22.11.2024.
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