Fontane, Theodor: Effi Briest. Berlin, 1896.Effi Briest war überall derselbe: mittelmäßige Menschen, vonmeist zweifelhafter Liebenswürdigkeit, die, während sie vorgaben, über Bismarck und die Kronprinzessin zu sprechen, eigentlich nur Effi's Toilette musterten, die von einigen als zu prätentiös für eine so jugendliche Dame, von andern als zu wenig decent für eine Dame von gesellschaftlicher Stellung befunden wurde. Man merke doch an allem die Berliner Schule: Sinn für Äußerliches und eine merkwürdige Verlegenheit und Unsicherheit bei Berührung großer Fragen. In Rothenmoor bei den Borcke's und dann auch bei den Familien in Morgnitz und Dabergotz war sie für "rationalistisch angekränkelt", bei den Grasenabb's in Kroschentin aber rundweg für eine "Atheistin" er¬ klärt worden. Allerdings hatte die alte Frau von Grasenabb, eine Süddeutsche (geborene Stiefel von Stiefelstein), einen schwachen Versuch gemacht, Effi wenigstens für den Deismus zu retten; Sidonie v. Grasenabb aber, eine dreiundvierzigjährige alte Jungfer, war barsch dazwischengefahren: "Ich sage Dir, Mutter, einfach Atheistin, kein Zoll breit weniger, und dabei bleibt es," worauf die Alte, die sich vor ihrer eigenen Tochter fürchtete, klüglich geschwiegen hatte. Die ganze Tournee hatte so ziemlich zwei Wochen Effi Brieſt war überall derſelbe: mittelmäßige Menſchen, vonmeiſt zweifelhafter Liebenswürdigkeit, die, während ſie vorgaben, über Bismarck und die Kronprinzeſſin zu ſprechen, eigentlich nur Effi's Toilette muſterten, die von einigen als zu prätentiös für eine ſo jugendliche Dame, von andern als zu wenig decent für eine Dame von geſellſchaftlicher Stellung befunden wurde. Man merke doch an allem die Berliner Schule: Sinn für Äußerliches und eine merkwürdige Verlegenheit und Unſicherheit bei Berührung großer Fragen. In Rothenmoor bei den Borcke's und dann auch bei den Familien in Morgnitz und Dabergotz war ſie für „rationaliſtiſch angekränkelt“, bei den Graſenabb's in Kroſchentin aber rundweg für eine „Atheiſtin“ er¬ klärt worden. Allerdings hatte die alte Frau von Graſenabb, eine Süddeutſche (geborene Stiefel von Stiefelſtein), einen ſchwachen Verſuch gemacht, Effi wenigſtens für den Deismus zu retten; Sidonie v. Graſenabb aber, eine dreiundvierzigjährige alte Jungfer, war barſch dazwiſchengefahren: „Ich ſage Dir, Mutter, einfach Atheiſtin, kein Zoll breit weniger, und dabei bleibt es,“ worauf die Alte, die ſich vor ihrer eigenen Tochter fürchtete, klüglich geſchwiegen hatte. Die ganze Tournee hatte ſo ziemlich zwei Wochen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0116" n="107"/><fw place="top" type="header">Effi Brieſt<lb/></fw>war überall derſelbe: mittelmäßige Menſchen, von<lb/> meiſt zweifelhafter Liebenswürdigkeit, die, während ſie<lb/> vorgaben, über Bismarck und die Kronprinzeſſin zu<lb/> ſprechen, eigentlich nur Effi's Toilette muſterten, die<lb/> von einigen als zu prätentiös für eine ſo jugendliche<lb/> Dame, von andern als zu wenig decent für eine Dame<lb/> von geſellſchaftlicher Stellung befunden wurde. Man<lb/> merke doch an allem die Berliner Schule: Sinn für<lb/> Äußerliches und eine merkwürdige Verlegenheit und<lb/> Unſicherheit bei Berührung großer Fragen. In<lb/> Rothenmoor bei den Borcke's und dann auch bei den<lb/> Familien in Morgnitz und Dabergotz war ſie für<lb/> „rationaliſtiſch angekränkelt“, bei den Graſenabb's in<lb/> Kroſchentin aber rundweg für eine „Atheiſtin“ er¬<lb/> klärt worden. Allerdings hatte die alte Frau von<lb/> Graſenabb, eine Süddeutſche (geborene Stiefel von<lb/> Stiefelſtein), einen ſchwachen Verſuch gemacht, Effi<lb/> wenigſtens für den Deismus zu retten; Sidonie v.<lb/> Graſenabb aber, eine dreiundvierzigjährige alte Jungfer,<lb/> war barſch dazwiſchengefahren: „Ich ſage Dir, Mutter,<lb/> einfach Atheiſtin, kein Zoll breit weniger, und dabei<lb/> bleibt es,“ worauf die Alte, die ſich vor ihrer eigenen<lb/> Tochter fürchtete, klüglich geſchwiegen hatte.</p><lb/> <p>Die ganze Tournee hatte ſo ziemlich zwei Wochen<lb/> gedauert, und es war am 2. Dezember, als man, zu<lb/> ſchon ſpäter Stunde, von dem letzten dieſer Beſuche<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [107/0116]
Effi Brieſt
war überall derſelbe: mittelmäßige Menſchen, von
meiſt zweifelhafter Liebenswürdigkeit, die, während ſie
vorgaben, über Bismarck und die Kronprinzeſſin zu
ſprechen, eigentlich nur Effi's Toilette muſterten, die
von einigen als zu prätentiös für eine ſo jugendliche
Dame, von andern als zu wenig decent für eine Dame
von geſellſchaftlicher Stellung befunden wurde. Man
merke doch an allem die Berliner Schule: Sinn für
Äußerliches und eine merkwürdige Verlegenheit und
Unſicherheit bei Berührung großer Fragen. In
Rothenmoor bei den Borcke's und dann auch bei den
Familien in Morgnitz und Dabergotz war ſie für
„rationaliſtiſch angekränkelt“, bei den Graſenabb's in
Kroſchentin aber rundweg für eine „Atheiſtin“ er¬
klärt worden. Allerdings hatte die alte Frau von
Graſenabb, eine Süddeutſche (geborene Stiefel von
Stiefelſtein), einen ſchwachen Verſuch gemacht, Effi
wenigſtens für den Deismus zu retten; Sidonie v.
Graſenabb aber, eine dreiundvierzigjährige alte Jungfer,
war barſch dazwiſchengefahren: „Ich ſage Dir, Mutter,
einfach Atheiſtin, kein Zoll breit weniger, und dabei
bleibt es,“ worauf die Alte, die ſich vor ihrer eigenen
Tochter fürchtete, klüglich geſchwiegen hatte.
Die ganze Tournee hatte ſo ziemlich zwei Wochen
gedauert, und es war am 2. Dezember, als man, zu
ſchon ſpäter Stunde, von dem letzten dieſer Beſuche
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