Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 3: Ost-Havelland. Berlin, 1873.

Bild:
<< vorherige Seite

um 1784 nur einfach alles das, was Stadtrichter Irmisch (dies
war der Name des 1620 zu Gericht sitzenden) so lange Zeit
vor ihm bereits niedergeschrieben hatte. Die Uebereinstimmung
ist so groß, daß darin ein eigenthümliches Interesse liegt.

"Die Bewohner von Werder," so bestätigt Schönemann,
"suchen sich durch Verbindungen unter einander zu vermehren
und nehmen Fremde nur ungern unter sich auf. Sie
sind stark, nervig, abgehärtet, sehr beweglich. Sie stehen bei
früher Tageszeit auf und gehen im Sommer schon um 2 Uhr
an die Arbeit; sie erreichen 70, 80 und mehrere Jahre und
bleiben bei guten Kräften. Ihre Kinder gewöhnen sie zu harter
Lebensart; im frühesten Alter werden sie mit in die Weinberge
genommen, um ihnen die Liebe zur Arbeit mit der Mutter-
milch einzuflößen. Die Kinder werden bis zum 8. oder 9. Jahre
in die Schule geschickt, lernen etwas lesen, wenig schreiben und
noch weniger rechnen. Die meisten bleiben ungesittet; das kommt
aber nicht in Betracht, weil ihnen an dem zeitlichen Gewinn
gelegen ist. Viele natürliche Fähigkeiten sind bei
ihnen nicht anzutreffen
und sie halten fest am Alten.
Sie lieben einen springenden Tanz, und machen Aufwand bei
ihren Gastmählern. Im Uebrigen aber leben sie kärglich
und sparsam und suchen sich durch Fleiß und Mühe
ein Vermögen zu erwerben
."

Welche Stabilität durch anderthalb Jahrhunderte! Im
Uebrigen, wenn man festhält, wie tief der Egoismus in aller
Menschennatur überhaupt steckt und daß es zu alledem zwei
"Fremde," zwei "Zugezogene" waren, die den Werderanern die
vorstehenden, gewiß nicht allzu günstig gefärbten Zeugnisse aus-
stellten, so kann man kaum behaupten, daß die Schilderung ein
besonders schlechtes Licht auf die Inselbewohner würfe. Hart,
zäh, fleißig, sparsam, abgeschlossen, allem Fremden und Neuen
abgeneigt, das Irdische über das Ueberirdische setzend -- das
giebt zwar kein Idealbild, aber doch das Bild eines tüchtigen
Stammes, und das sind sie auch durchaus und unverändert bis
diesen Tag.

um 1784 nur einfach alles das, was Stadtrichter Irmiſch (dies
war der Name des 1620 zu Gericht ſitzenden) ſo lange Zeit
vor ihm bereits niedergeſchrieben hatte. Die Uebereinſtimmung
iſt ſo groß, daß darin ein eigenthümliches Intereſſe liegt.

„Die Bewohner von Werder,“ ſo beſtätigt Schönemann,
„ſuchen ſich durch Verbindungen unter einander zu vermehren
und nehmen Fremde nur ungern unter ſich auf. Sie
ſind ſtark, nervig, abgehärtet, ſehr beweglich. Sie ſtehen bei
früher Tageszeit auf und gehen im Sommer ſchon um 2 Uhr
an die Arbeit; ſie erreichen 70, 80 und mehrere Jahre und
bleiben bei guten Kräften. Ihre Kinder gewöhnen ſie zu harter
Lebensart; im früheſten Alter werden ſie mit in die Weinberge
genommen, um ihnen die Liebe zur Arbeit mit der Mutter-
milch einzuflößen. Die Kinder werden bis zum 8. oder 9. Jahre
in die Schule geſchickt, lernen etwas leſen, wenig ſchreiben und
noch weniger rechnen. Die meiſten bleiben ungeſittet; das kommt
aber nicht in Betracht, weil ihnen an dem zeitlichen Gewinn
gelegen iſt. Viele natürliche Fähigkeiten ſind bei
ihnen nicht anzutreffen
und ſie halten feſt am Alten.
Sie lieben einen ſpringenden Tanz, und machen Aufwand bei
ihren Gaſtmählern. Im Uebrigen aber leben ſie kärglich
und ſparſam und ſuchen ſich durch Fleiß und Mühe
ein Vermögen zu erwerben
.“

Welche Stabilität durch anderthalb Jahrhunderte! Im
Uebrigen, wenn man feſthält, wie tief der Egoismus in aller
Menſchennatur überhaupt ſteckt und daß es zu alledem zwei
„Fremde,“ zwei „Zugezogene“ waren, die den Werderanern die
vorſtehenden, gewiß nicht allzu günſtig gefärbten Zeugniſſe aus-
ſtellten, ſo kann man kaum behaupten, daß die Schilderung ein
beſonders ſchlechtes Licht auf die Inſelbewohner würfe. Hart,
zäh, fleißig, ſparſam, abgeſchloſſen, allem Fremden und Neuen
abgeneigt, das Irdiſche über das Ueberirdiſche ſetzend — das
giebt zwar kein Idealbild, aber doch das Bild eines tüchtigen
Stammes, und das ſind ſie auch durchaus und unverändert bis
dieſen Tag.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0238" n="220"/>
um 1784 nur einfach alles das, was Stadtrichter Irmi&#x017F;ch (dies<lb/>
war der Name des 1620 zu Gericht &#x017F;itzenden) &#x017F;o lange Zeit<lb/><hi rendition="#g">vor</hi> ihm bereits niederge&#x017F;chrieben hatte. Die Ueberein&#x017F;timmung<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;o groß, daß darin ein eigenthümliches Intere&#x017F;&#x017F;e liegt.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Die Bewohner von Werder,&#x201C; &#x017F;o be&#x017F;tätigt Schönemann,<lb/>
&#x201E;&#x017F;uchen &#x017F;ich durch Verbindungen unter einander zu vermehren<lb/>
und <hi rendition="#g">nehmen Fremde nur ungern unter &#x017F;ich auf</hi>. Sie<lb/>
&#x017F;ind &#x017F;tark, nervig, abgehärtet, &#x017F;ehr beweglich. Sie &#x017F;tehen bei<lb/>
früher Tageszeit auf und gehen im Sommer &#x017F;chon um 2 Uhr<lb/>
an die Arbeit; &#x017F;ie erreichen 70, 80 und mehrere Jahre und<lb/>
bleiben bei guten Kräften. Ihre Kinder gewöhnen &#x017F;ie zu harter<lb/>
Lebensart; im frühe&#x017F;ten Alter werden &#x017F;ie mit in die Weinberge<lb/>
genommen, um ihnen die <hi rendition="#g">Liebe zur Arbeit</hi> mit der Mutter-<lb/>
milch einzuflößen. Die Kinder werden bis zum 8. oder 9. Jahre<lb/>
in die Schule ge&#x017F;chickt, lernen etwas le&#x017F;en, wenig &#x017F;chreiben und<lb/>
noch weniger rechnen. Die mei&#x017F;ten bleiben unge&#x017F;ittet; das kommt<lb/>
aber nicht in Betracht, weil ihnen an dem zeitlichen Gewinn<lb/>
gelegen i&#x017F;t. <hi rendition="#g">Viele natürliche Fähigkeiten &#x017F;ind bei<lb/>
ihnen nicht anzutreffen</hi> und &#x017F;ie halten fe&#x017F;t am Alten.<lb/>
Sie lieben einen &#x017F;pringenden Tanz, und machen Aufwand bei<lb/>
ihren Ga&#x017F;tmählern. Im Uebrigen aber leben &#x017F;ie <hi rendition="#g">kärglich<lb/>
und &#x017F;par&#x017F;am und &#x017F;uchen &#x017F;ich durch Fleiß und Mühe<lb/>
ein Vermögen zu erwerben</hi>.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Welche Stabilität durch anderthalb Jahrhunderte! Im<lb/>
Uebrigen, wenn man fe&#x017F;thält, wie tief der Egoismus in aller<lb/>
Men&#x017F;chennatur überhaupt &#x017F;teckt und daß es zu alledem zwei<lb/>
&#x201E;Fremde,&#x201C; zwei &#x201E;Zugezogene&#x201C; waren, die den Werderanern die<lb/>
vor&#x017F;tehenden, gewiß nicht allzu gün&#x017F;tig gefärbten Zeugni&#x017F;&#x017F;e aus-<lb/>
&#x017F;tellten, &#x017F;o kann man kaum behaupten, daß die Schilderung ein<lb/>
be&#x017F;onders &#x017F;chlechtes Licht auf die In&#x017F;elbewohner würfe. Hart,<lb/>
zäh, fleißig, &#x017F;par&#x017F;am, abge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, allem Fremden und Neuen<lb/>
abgeneigt, das Irdi&#x017F;che über das Ueberirdi&#x017F;che &#x017F;etzend &#x2014; das<lb/>
giebt zwar kein Idealbild, aber doch das Bild eines tüchtigen<lb/>
Stammes, und das &#x017F;ind &#x017F;ie auch durchaus und unverändert bis<lb/>
die&#x017F;en Tag.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[220/0238] um 1784 nur einfach alles das, was Stadtrichter Irmiſch (dies war der Name des 1620 zu Gericht ſitzenden) ſo lange Zeit vor ihm bereits niedergeſchrieben hatte. Die Uebereinſtimmung iſt ſo groß, daß darin ein eigenthümliches Intereſſe liegt. „Die Bewohner von Werder,“ ſo beſtätigt Schönemann, „ſuchen ſich durch Verbindungen unter einander zu vermehren und nehmen Fremde nur ungern unter ſich auf. Sie ſind ſtark, nervig, abgehärtet, ſehr beweglich. Sie ſtehen bei früher Tageszeit auf und gehen im Sommer ſchon um 2 Uhr an die Arbeit; ſie erreichen 70, 80 und mehrere Jahre und bleiben bei guten Kräften. Ihre Kinder gewöhnen ſie zu harter Lebensart; im früheſten Alter werden ſie mit in die Weinberge genommen, um ihnen die Liebe zur Arbeit mit der Mutter- milch einzuflößen. Die Kinder werden bis zum 8. oder 9. Jahre in die Schule geſchickt, lernen etwas leſen, wenig ſchreiben und noch weniger rechnen. Die meiſten bleiben ungeſittet; das kommt aber nicht in Betracht, weil ihnen an dem zeitlichen Gewinn gelegen iſt. Viele natürliche Fähigkeiten ſind bei ihnen nicht anzutreffen und ſie halten feſt am Alten. Sie lieben einen ſpringenden Tanz, und machen Aufwand bei ihren Gaſtmählern. Im Uebrigen aber leben ſie kärglich und ſparſam und ſuchen ſich durch Fleiß und Mühe ein Vermögen zu erwerben.“ Welche Stabilität durch anderthalb Jahrhunderte! Im Uebrigen, wenn man feſthält, wie tief der Egoismus in aller Menſchennatur überhaupt ſteckt und daß es zu alledem zwei „Fremde,“ zwei „Zugezogene“ waren, die den Werderanern die vorſtehenden, gewiß nicht allzu günſtig gefärbten Zeugniſſe aus- ſtellten, ſo kann man kaum behaupten, daß die Schilderung ein beſonders ſchlechtes Licht auf die Inſelbewohner würfe. Hart, zäh, fleißig, ſparſam, abgeſchloſſen, allem Fremden und Neuen abgeneigt, das Irdiſche über das Ueberirdiſche ſetzend — das giebt zwar kein Idealbild, aber doch das Bild eines tüchtigen Stammes, und das ſind ſie auch durchaus und unverändert bis dieſen Tag.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Fontanes "Wanderungen" erschienen zuerst in Forts… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg03_1873
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg03_1873/238
Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 3: Ost-Havelland. Berlin, 1873, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg03_1873/238>, abgerufen am 25.11.2024.