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Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 2: Das Oderland. Berlin, 1863.

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und Leid, unter den wechselndsten Schicksalen und Stimmungen
beherrschte: der Zug und Hang nach dem Geistreichen. Die-
ser Hang nahm, bevor die letzten Jahre seines Lebens eine Klä-
rung und die Ruhe einer größeren Reife schufen, fast die Form
einer Krankheit an. Alles verschwand daneben.

Um dieß in ganzem Umfang zu verstehen, ist es nöthig, sich
in die Genialitätsbestrebungen, in die geistige Genußsucht jener Zeit
zurückzuversetzen. Der bekannte Ausspruch Friedrichs des Großen,
"daß er der Beschäftigung mit guten Büchern und gescheidten
Leuten die genußreichsten, wo nicht die einzig genußreichen Stun-
den seines Lebens verdanke", schien plötzlich die Anschauung aller
feinen Köpfe geworden zu sein; sie lebten wie im Theater und
horchten auf die besten Stellen. Die Personen waren nicht
mehr Personen, sondern Akteurs; alles kam auf die Unterhal-
tung, die Belehrung an, die sie gewährten. Der Witz, die geist-
reiche Sentenz, der Strom des Wissens, der Zauber der Rede
lösten sich wie selbstständige Kunstwerke vom Sprecher los, und in
derselben Weise, wie es uns, Angesichts eines schönen Landschafts-
bildes, nicht im geringsten kümmert, wer es gemalt hat, ob ein
Vornehmer oder Geringer, ob eine saubere oder unsaubere Hand,
so wog damals der Glanz geistiger Gaben alles auf. Ein Höcker,
physisch oder moralisch, war gleichgültig, wenn es nur ein Aesop
war, der ihn trug. Ein brennender Durst erfüllte die Geister, und
wer diesen Durst stillte, der war willkommen. Es hätte für Vor-
urtheil, für kleinlich und altfränkisch gegolten, moralische Bedenken
zu unterhalten. Erst der Kriegssturm reinigte wieder die Atmosphäre.

Die Gestalt des Prinzen Louis Ferdinand wird immer
jene Zeit hoher Vorzüge und glänzender Verirrungen wie auf
einen Schlag charakterisiren. Alexander von der Marwitz war ihm
ähnlich. Der Unterschied zwischen beiden war nur der, daß die
Genußsucht des Prinzen (wie viel auch zur Erklärung und Ent-
schuldigung desselben gesagt worden ist) seinen Charakter beeinflus-
sen und beschädigen durfte, während Marwitz, in wunderbarer
Weise, eine getrennte Wirthschaft, eine doppelte Oekonomie zu

und Leid, unter den wechſelndſten Schickſalen und Stimmungen
beherrſchte: der Zug und Hang nach dem Geiſtreichen. Die-
ſer Hang nahm, bevor die letzten Jahre ſeines Lebens eine Klä-
rung und die Ruhe einer größeren Reife ſchufen, faſt die Form
einer Krankheit an. Alles verſchwand daneben.

Um dieß in ganzem Umfang zu verſtehen, iſt es nöthig, ſich
in die Genialitätsbeſtrebungen, in die geiſtige Genußſucht jener Zeit
zurückzuverſetzen. Der bekannte Ausſpruch Friedrichs des Großen,
„daß er der Beſchäftigung mit guten Büchern und geſcheidten
Leuten die genußreichſten, wo nicht die einzig genußreichen Stun-
den ſeines Lebens verdanke“, ſchien plötzlich die Anſchauung aller
feinen Köpfe geworden zu ſein; ſie lebten wie im Theater und
horchten auf die beſten Stellen. Die Perſonen waren nicht
mehr Perſonen, ſondern Akteurs; alles kam auf die Unterhal-
tung, die Belehrung an, die ſie gewährten. Der Witz, die geiſt-
reiche Sentenz, der Strom des Wiſſens, der Zauber der Rede
lösten ſich wie ſelbſtſtändige Kunſtwerke vom Sprecher los, und in
derſelben Weiſe, wie es uns, Angeſichts eines ſchönen Landſchafts-
bildes, nicht im geringſten kümmert, wer es gemalt hat, ob ein
Vornehmer oder Geringer, ob eine ſaubere oder unſaubere Hand,
ſo wog damals der Glanz geiſtiger Gaben alles auf. Ein Höcker,
phyſiſch oder moraliſch, war gleichgültig, wenn es nur ein Aeſop
war, der ihn trug. Ein brennender Durſt erfüllte die Geiſter, und
wer dieſen Durſt ſtillte, der war willkommen. Es hätte für Vor-
urtheil, für kleinlich und altfränkiſch gegolten, moraliſche Bedenken
zu unterhalten. Erſt der Kriegsſturm reinigte wieder die Atmoſphäre.

Die Geſtalt des Prinzen Louis Ferdinand wird immer
jene Zeit hoher Vorzüge und glänzender Verirrungen wie auf
einen Schlag charakteriſiren. Alexander von der Marwitz war ihm
ähnlich. Der Unterſchied zwiſchen beiden war nur der, daß die
Genußſucht des Prinzen (wie viel auch zur Erklärung und Ent-
ſchuldigung deſſelben geſagt worden iſt) ſeinen Charakter beeinfluſ-
ſen und beſchädigen durfte, während Marwitz, in wunderbarer
Weiſe, eine getrennte Wirthſchaft, eine doppelte Oekonomie zu

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[390/0402] und Leid, unter den wechſelndſten Schickſalen und Stimmungen beherrſchte: der Zug und Hang nach dem Geiſtreichen. Die- ſer Hang nahm, bevor die letzten Jahre ſeines Lebens eine Klä- rung und die Ruhe einer größeren Reife ſchufen, faſt die Form einer Krankheit an. Alles verſchwand daneben. Um dieß in ganzem Umfang zu verſtehen, iſt es nöthig, ſich in die Genialitätsbeſtrebungen, in die geiſtige Genußſucht jener Zeit zurückzuverſetzen. Der bekannte Ausſpruch Friedrichs des Großen, „daß er der Beſchäftigung mit guten Büchern und geſcheidten Leuten die genußreichſten, wo nicht die einzig genußreichen Stun- den ſeines Lebens verdanke“, ſchien plötzlich die Anſchauung aller feinen Köpfe geworden zu ſein; ſie lebten wie im Theater und horchten auf die beſten Stellen. Die Perſonen waren nicht mehr Perſonen, ſondern Akteurs; alles kam auf die Unterhal- tung, die Belehrung an, die ſie gewährten. Der Witz, die geiſt- reiche Sentenz, der Strom des Wiſſens, der Zauber der Rede lösten ſich wie ſelbſtſtändige Kunſtwerke vom Sprecher los, und in derſelben Weiſe, wie es uns, Angeſichts eines ſchönen Landſchafts- bildes, nicht im geringſten kümmert, wer es gemalt hat, ob ein Vornehmer oder Geringer, ob eine ſaubere oder unſaubere Hand, ſo wog damals der Glanz geiſtiger Gaben alles auf. Ein Höcker, phyſiſch oder moraliſch, war gleichgültig, wenn es nur ein Aeſop war, der ihn trug. Ein brennender Durſt erfüllte die Geiſter, und wer dieſen Durſt ſtillte, der war willkommen. Es hätte für Vor- urtheil, für kleinlich und altfränkiſch gegolten, moraliſche Bedenken zu unterhalten. Erſt der Kriegsſturm reinigte wieder die Atmoſphäre. Die Geſtalt des Prinzen Louis Ferdinand wird immer jene Zeit hoher Vorzüge und glänzender Verirrungen wie auf einen Schlag charakteriſiren. Alexander von der Marwitz war ihm ähnlich. Der Unterſchied zwiſchen beiden war nur der, daß die Genußſucht des Prinzen (wie viel auch zur Erklärung und Ent- ſchuldigung deſſelben geſagt worden iſt) ſeinen Charakter beeinfluſ- ſen und beſchädigen durfte, während Marwitz, in wunderbarer Weiſe, eine getrennte Wirthſchaft, eine doppelte Oekonomie zu

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Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 2: Das Oderland. Berlin, 1863, S. 390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg02_1863/402>, abgerufen am 25.11.2024.