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Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 2: Das Oderland. Berlin, 1863.

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für Musik und Gesang. Ob eine solche Vorliebe auch bei den
Wenden des Oderbruchs zu finden war? möglich, aber nicht wahr-
scheinlich. Eins spricht entschieden dagegen. Volkslieder haben ein
langes Leben und überdauern Vieles; aber nirgends im Bruch,
auch in jenen Randdörfern nicht, die sich noch einer vorwiegend
wendischen Abstammung rühmen, begegnet man alten Volkswei-
sen; sie singen was andren Orts gesungen wird; keine Spur wen-
discher Eigenart, woraus sich schließen läßt, daß überhaupt wenig
davon vorhanden war.*)


*) In allerneuster Zeit hat sich ein geborner Oderbrücher, der Lehrer
Rubehn in Groß-Neuendorf, der dankenswerthen aber freilich schwierigen
Aufgabe unterzogen, der wendischen Vorgeschichte des Oderbruchs nachzu-
spüren und Material dafür zu sammeln. Dies Material, in das mir ein
Blick gestattet war, ist reich und instruktiv; der Sammler indeß scheint
mir darin irre zu gehn, daß er geneigt ist, den Sprüchen und Sagen,
deren er viele zusammengetragen hat, ein größres Alter beizumessen, als
ihnen zukommt. Mit andern Worten, er vermuthet da wendisch-ursprüng-
liches oder im Oderbruch gewachsenes, wo nur deutsch-importirtes
vorliegt. Die Sagen, die ich seiner Mittheilung verdanke, finden sich, fast
ohne Ausnahme, in den Landestheilen (Pfalz, Schwaben, Niedersachsen)
wieder, aus denen die Colonisirung des Oderbruchs erfolgte. Eine unter
diesen Sagen indeß, wiewohl sicherlich ebenfalls deutsch, mag um ihrer
selbst willen einen Platz an dieser Stelle finden. Es ist das die Geschichte
vom "Rothmützeken":
Bei einem Reetzer Fischer vermiethete sich einst ein Knecht, der immer eine rothe
Mütze trug, weshalb er im Dorf "Rothmützeken" genannt wurde. Alle Sonn-
tag, wenn die andern Leute zur Kirche gingen, stieg er auf den Stallboden, wo
allerlei kleine Männer, die "Untererdschken", zu ihm kamen und Spiel und Lärm
und lautes Lachen mit ihm vollführten. Wenn dann die Hausleute aus der Kirche
zurückkamen, kam "Rothmützeken" wieder vom Stallboden herunter und war mun-
ter und guter Dinge. Das dauerte eine ganze Zeit, wohl über Tag und Jahr.
Eines Sonntags, es war der Sonntag nach Weihnachten, stieg er auch wieder auf
den Stallboden, während die andern nach der Kirche waren und das Lärmen und
Poltern und Lachen nahm wieder seinen Anfang wie früher, nur viel wilder und
lauter. So ging es wohl eine Stunde; als aber der Prediger auf der Kanzel eben
Amen gesagt hatte, da gab es einen Knall, der die Kirche und alle Häuser im
Dorf erschütterte, und als die Leute nach Hause stürzten, fanden sie die Stallboden-
thür weit auf die Straße geschleudert, Rothmützeken aber an einem Kreuzbalken er-
hängt. Sie begruben ihn in eine Ecke des Kirchhofs. Er hatte aber nicht Ruh im
Grabe. Immer in der Sonntagsnacht nach Weihnachten erschien er auf dem Kirch-
hof und die Hirten, die damals (wo im Sommer das Bruch unter Wasser stand)
oft noch um die Weihnachtszeit ihr Vieh auf die Weide trieben, sahen ihn dann,
14*

für Muſik und Geſang. Ob eine ſolche Vorliebe auch bei den
Wenden des Oderbruchs zu finden war? möglich, aber nicht wahr-
ſcheinlich. Eins ſpricht entſchieden dagegen. Volkslieder haben ein
langes Leben und überdauern Vieles; aber nirgends im Bruch,
auch in jenen Randdörfern nicht, die ſich noch einer vorwiegend
wendiſchen Abſtammung rühmen, begegnet man alten Volkswei-
ſen; ſie ſingen was andren Orts geſungen wird; keine Spur wen-
diſcher Eigenart, woraus ſich ſchließen läßt, daß überhaupt wenig
davon vorhanden war.*)


*) In allerneuſter Zeit hat ſich ein geborner Oderbrücher, der Lehrer
Rubehn in Groß-Neuendorf, der dankenswerthen aber freilich ſchwierigen
Aufgabe unterzogen, der wendiſchen Vorgeſchichte des Oderbruchs nachzu-
ſpüren und Material dafür zu ſammeln. Dies Material, in das mir ein
Blick geſtattet war, iſt reich und inſtruktiv; der Sammler indeß ſcheint
mir darin irre zu gehn, daß er geneigt iſt, den Sprüchen und Sagen,
deren er viele zuſammengetragen hat, ein größres Alter beizumeſſen, als
ihnen zukommt. Mit andern Worten, er vermuthet da wendiſch-urſprüng-
liches oder im Oderbruch gewachſenes, wo nur deutſch-importirtes
vorliegt. Die Sagen, die ich ſeiner Mittheilung verdanke, finden ſich, faſt
ohne Ausnahme, in den Landestheilen (Pfalz, Schwaben, Niederſachſen)
wieder, aus denen die Coloniſirung des Oderbruchs erfolgte. Eine unter
dieſen Sagen indeß, wiewohl ſicherlich ebenfalls deutſch, mag um ihrer
ſelbſt willen einen Platz an dieſer Stelle finden. Es iſt das die Geſchichte
vom „Rothmützeken“:
Bei einem Reetzer Fiſcher vermiethete ſich einſt ein Knecht, der immer eine rothe
Mütze trug, weshalb er im Dorf „Rothmützeken“ genannt wurde. Alle Sonn-
tag, wenn die andern Leute zur Kirche gingen, ſtieg er auf den Stallboden, wo
allerlei kleine Männer, die „Untererdſchken“, zu ihm kamen und Spiel und Lärm
und lautes Lachen mit ihm vollführten. Wenn dann die Hausleute aus der Kirche
zurückkamen, kam „Rothmützeken“ wieder vom Stallboden herunter und war mun-
ter und guter Dinge. Das dauerte eine ganze Zeit, wohl über Tag und Jahr.
Eines Sonntags, es war der Sonntag nach Weihnachten, ſtieg er auch wieder auf
den Stallboden, während die andern nach der Kirche waren und das Lärmen und
Poltern und Lachen nahm wieder ſeinen Anfang wie früher, nur viel wilder und
lauter. So ging es wohl eine Stunde; als aber der Prediger auf der Kanzel eben
Amen geſagt hatte, da gab es einen Knall, der die Kirche und alle Häuſer im
Dorf erſchütterte, und als die Leute nach Hauſe ſtürzten, fanden ſie die Stallboden-
thür weit auf die Straße geſchleudert, Rothmützeken aber an einem Kreuzbalken er-
hängt. Sie begruben ihn in eine Ecke des Kirchhofs. Er hatte aber nicht Ruh im
Grabe. Immer in der Sonntagsnacht nach Weihnachten erſchien er auf dem Kirch-
hof und die Hirten, die damals (wo im Sommer das Bruch unter Waſſer ſtand)
oft noch um die Weihnachtszeit ihr Vieh auf die Weide trieben, ſahen ihn dann,
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[211/0223] für Muſik und Geſang. Ob eine ſolche Vorliebe auch bei den Wenden des Oderbruchs zu finden war? möglich, aber nicht wahr- ſcheinlich. Eins ſpricht entſchieden dagegen. Volkslieder haben ein langes Leben und überdauern Vieles; aber nirgends im Bruch, auch in jenen Randdörfern nicht, die ſich noch einer vorwiegend wendiſchen Abſtammung rühmen, begegnet man alten Volkswei- ſen; ſie ſingen was andren Orts geſungen wird; keine Spur wen- diſcher Eigenart, woraus ſich ſchließen läßt, daß überhaupt wenig davon vorhanden war. *) *) In allerneuſter Zeit hat ſich ein geborner Oderbrücher, der Lehrer Rubehn in Groß-Neuendorf, der dankenswerthen aber freilich ſchwierigen Aufgabe unterzogen, der wendiſchen Vorgeſchichte des Oderbruchs nachzu- ſpüren und Material dafür zu ſammeln. Dies Material, in das mir ein Blick geſtattet war, iſt reich und inſtruktiv; der Sammler indeß ſcheint mir darin irre zu gehn, daß er geneigt iſt, den Sprüchen und Sagen, deren er viele zuſammengetragen hat, ein größres Alter beizumeſſen, als ihnen zukommt. Mit andern Worten, er vermuthet da wendiſch-urſprüng- liches oder im Oderbruch gewachſenes, wo nur deutſch-importirtes vorliegt. Die Sagen, die ich ſeiner Mittheilung verdanke, finden ſich, faſt ohne Ausnahme, in den Landestheilen (Pfalz, Schwaben, Niederſachſen) wieder, aus denen die Coloniſirung des Oderbruchs erfolgte. Eine unter dieſen Sagen indeß, wiewohl ſicherlich ebenfalls deutſch, mag um ihrer ſelbſt willen einen Platz an dieſer Stelle finden. Es iſt das die Geſchichte vom „Rothmützeken“: Bei einem Reetzer Fiſcher vermiethete ſich einſt ein Knecht, der immer eine rothe Mütze trug, weshalb er im Dorf „Rothmützeken“ genannt wurde. Alle Sonn- tag, wenn die andern Leute zur Kirche gingen, ſtieg er auf den Stallboden, wo allerlei kleine Männer, die „Untererdſchken“, zu ihm kamen und Spiel und Lärm und lautes Lachen mit ihm vollführten. Wenn dann die Hausleute aus der Kirche zurückkamen, kam „Rothmützeken“ wieder vom Stallboden herunter und war mun- ter und guter Dinge. Das dauerte eine ganze Zeit, wohl über Tag und Jahr. Eines Sonntags, es war der Sonntag nach Weihnachten, ſtieg er auch wieder auf den Stallboden, während die andern nach der Kirche waren und das Lärmen und Poltern und Lachen nahm wieder ſeinen Anfang wie früher, nur viel wilder und lauter. So ging es wohl eine Stunde; als aber der Prediger auf der Kanzel eben Amen geſagt hatte, da gab es einen Knall, der die Kirche und alle Häuſer im Dorf erſchütterte, und als die Leute nach Hauſe ſtürzten, fanden ſie die Stallboden- thür weit auf die Straße geſchleudert, Rothmützeken aber an einem Kreuzbalken er- hängt. Sie begruben ihn in eine Ecke des Kirchhofs. Er hatte aber nicht Ruh im Grabe. Immer in der Sonntagsnacht nach Weihnachten erſchien er auf dem Kirch- hof und die Hirten, die damals (wo im Sommer das Bruch unter Waſſer ſtand) oft noch um die Weihnachtszeit ihr Vieh auf die Weide trieben, ſahen ihn dann, 14*

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Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 2: Das Oderland. Berlin, 1863, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg02_1863/223>, abgerufen am 25.11.2024.