sind. Am obern Ende des Ovaltisches, dessen grüne Decke mit vielen hundert Goldnägelchen an der Tischplatte befestigt ist, sitzt der alte Schadow, die Arme auf die Seitenpolster eines Lehnstuhls gelegt, während seine Füße in hohen Pelzstiefeln stecken und ein mächtiger grüner Lichtschirm mehr als die Hälfte seines Gesichts verdeckt. Es ist heute Annahme neuer Zöglinge. Am entgegenge- setzten Ende des Saales steht Professor Stabbfuß und controlirt alle Eintretenden, die sich zur Aufnahme melden. Wessen Zeugnisse nicht in Ordnung sind, wer zu jung ist oder zu alt, wird uner- bittlich zurückgewiesen; heitre und verblüffte Gesichter wechseln in rascher Reihenfolge ab. Da tritt ein Bürschchen ein, den wir Lin- denolt nennen wollen, keiner aus der Provinz, dem sich die Ver- legenheit wie ein Alp auf die Zunge legt, sondern ein Berliner Kind, dessen kraus aufrecht stehendes, blondes Haar gegen alle Aengst- lichkeit in der Welt zu protestiren scheint. Er hat freilich noch be- sondere Gründe, an dieser Stelle mit Sicherheit aufzutreten; denn der alte Schadow ist Hausfreund bei seinen Eltern, und kein Geburtstag des alten Herrn ist seit 20 Jahren vorübergegangen, wo nicht Lindenolt's Mutter, eine heitere, thüringsche Frau, dem "Herrn Director" seinen Lieblingskuchen (wir werden gleich sehen welchen) als Geburtstagsgeschenk überschickt hätte. Lindenolt kennt die Welt; die Macht der Connexion ist kein Geheimniß mehr für ihn, und auf Professor Stabbfuß's wiederholte Fragen nach Zeug- nissen und allerhand andern Papieren, entgegnet er mit äußerster Unbefangenheit, daß er weder Zeugnisse noch andere Papiere habe. Die Ruhe, mit der diese Erklärung abgegeben wird, hat etwas Beleidigendes, und Stabbfuß beginnt seinem Aerger Luft zu machen. Lindenolt antwortet. Der Lärm wird immer größer und der alte Schadow, oben am Tisch, dessen schläfrig scheinender Auf- merksamkeit nichts entgangen ist, ruft endlich über den Tisch hin: "Wat is denn los?" Statt eine directe Antwort zu geben, tritt Stabbfuß jetzt an den Alten heran, zeigt auf Lindenolt, der ihm gefolgt ist, und spricht im Tone schlecht verhehlten Aergers: "Herr Director, hier ist einer von den Lindenolts; er will in die Gips-
ſind. Am obern Ende des Ovaltiſches, deſſen grüne Decke mit vielen hundert Goldnägelchen an der Tiſchplatte befeſtigt iſt, ſitzt der alte Schadow, die Arme auf die Seitenpolſter eines Lehnſtuhls gelegt, während ſeine Füße in hohen Pelzſtiefeln ſtecken und ein mächtiger grüner Lichtſchirm mehr als die Hälfte ſeines Geſichts verdeckt. Es iſt heute Annahme neuer Zöglinge. Am entgegenge- ſetzten Ende des Saales ſteht Profeſſor Stabbfuß und controlirt alle Eintretenden, die ſich zur Aufnahme melden. Weſſen Zeugniſſe nicht in Ordnung ſind, wer zu jung iſt oder zu alt, wird uner- bittlich zurückgewieſen; heitre und verblüffte Geſichter wechſeln in raſcher Reihenfolge ab. Da tritt ein Bürſchchen ein, den wir Lin- denolt nennen wollen, keiner aus der Provinz, dem ſich die Ver- legenheit wie ein Alp auf die Zunge legt, ſondern ein Berliner Kind, deſſen kraus aufrecht ſtehendes, blondes Haar gegen alle Aengſt- lichkeit in der Welt zu proteſtiren ſcheint. Er hat freilich noch be- ſondere Gründe, an dieſer Stelle mit Sicherheit aufzutreten; denn der alte Schadow iſt Hausfreund bei ſeinen Eltern, und kein Geburtstag des alten Herrn iſt ſeit 20 Jahren vorübergegangen, wo nicht Lindenolt’s Mutter, eine heitere, thüringſche Frau, dem „Herrn Director“ ſeinen Lieblingskuchen (wir werden gleich ſehen welchen) als Geburtstagsgeſchenk überſchickt hätte. Lindenolt kennt die Welt; die Macht der Connexion iſt kein Geheimniß mehr für ihn, und auf Profeſſor Stabbfuß’s wiederholte Fragen nach Zeug- niſſen und allerhand andern Papieren, entgegnet er mit äußerſter Unbefangenheit, daß er weder Zeugniſſe noch andere Papiere habe. Die Ruhe, mit der dieſe Erklärung abgegeben wird, hat etwas Beleidigendes, und Stabbfuß beginnt ſeinem Aerger Luft zu machen. Lindenolt antwortet. Der Lärm wird immer größer und der alte Schadow, oben am Tiſch, deſſen ſchläfrig ſcheinender Auf- merkſamkeit nichts entgangen iſt, ruft endlich über den Tiſch hin: „Wat is denn los?“ Statt eine directe Antwort zu geben, tritt Stabbfuß jetzt an den Alten heran, zeigt auf Lindenolt, der ihm gefolgt iſt, und ſpricht im Tone ſchlecht verhehlten Aergers: „Herr Director, hier iſt einer von den Lindenolts; er will in die Gips-
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ſind. Am obern Ende des Ovaltiſches, deſſen grüne Decke mit
vielen hundert Goldnägelchen an der Tiſchplatte befeſtigt iſt, ſitzt
der alte Schadow, die Arme auf die Seitenpolſter eines Lehnſtuhls
gelegt, während ſeine Füße in hohen Pelzſtiefeln ſtecken und ein
mächtiger grüner Lichtſchirm mehr als die Hälfte ſeines Geſichts
verdeckt. Es iſt heute Annahme neuer Zöglinge. Am entgegenge-
ſetzten Ende des Saales ſteht Profeſſor Stabbfuß und controlirt
alle Eintretenden, die ſich zur Aufnahme melden. Weſſen Zeugniſſe
nicht in Ordnung ſind, wer zu jung iſt oder zu alt, wird uner-
bittlich zurückgewieſen; heitre und verblüffte Geſichter wechſeln in
raſcher Reihenfolge ab. Da tritt ein Bürſchchen ein, den wir Lin-
denolt nennen wollen, keiner aus der Provinz, dem ſich die Ver-
legenheit wie ein Alp auf die Zunge legt, ſondern ein Berliner
Kind, deſſen kraus aufrecht ſtehendes, blondes Haar gegen alle Aengſt-
lichkeit in der Welt zu proteſtiren ſcheint. Er hat freilich noch be-
ſondere Gründe, an dieſer Stelle mit Sicherheit aufzutreten; denn
der alte Schadow iſt Hausfreund bei ſeinen Eltern, und kein
Geburtstag des alten Herrn iſt ſeit 20 Jahren vorübergegangen,
wo nicht Lindenolt’s Mutter, eine heitere, thüringſche Frau, dem
„Herrn Director“ ſeinen Lieblingskuchen (wir werden gleich ſehen
welchen) als Geburtstagsgeſchenk überſchickt hätte. Lindenolt kennt
die Welt; die Macht der Connexion iſt kein Geheimniß mehr für
ihn, und auf Profeſſor Stabbfuß’s wiederholte Fragen nach Zeug-
niſſen und allerhand andern Papieren, entgegnet er mit äußerſter
Unbefangenheit, daß er weder Zeugniſſe noch andere Papiere habe.
Die Ruhe, mit der dieſe Erklärung abgegeben wird, hat etwas
Beleidigendes, und Stabbfuß beginnt ſeinem Aerger Luft zu
machen. Lindenolt antwortet. Der Lärm wird immer größer und
der alte Schadow, oben am Tiſch, deſſen ſchläfrig ſcheinender Auf-
merkſamkeit nichts entgangen iſt, ruft endlich über den Tiſch hin:
„Wat is denn los?“ Statt eine directe Antwort zu geben, tritt
Stabbfuß jetzt an den Alten heran, zeigt auf Lindenolt, der ihm
gefolgt iſt, und ſpricht im Tone ſchlecht verhehlten Aergers: „Herr
Director, hier iſt einer von den Lindenolts; er will in die Gips-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Fontanes "Wanderungen" erschienen zuerst in Forts… [mehr]
Fontanes "Wanderungen" erschienen zuerst in Fortsetzungen in der Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung 1859 bzw. im Morgenblatt für gebildete Leser (zwischen 1860 und 1864). Als Buchausgabe erschien der erste Band "Die Grafschaft Ruppin. Der Barnim. Der Teltow" 1862 bei W. Hertz in Berlin. In der Folge wurde der Text von Fontane mehrfach überarbeitet und erweitert. Für das DTA wurde die erste Auflage der Buchausgabe digitalisiert.
Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. [Bd. 1: Die Grafschaft Ruppin. Der Barnim. Der Teltow]. Berlin, 1862, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg01_1862/444>, abgerufen am 27.11.2024.
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