Fischer, Emil: Gedächtnisrede auf Jacobus Henricus van’t Hoff. Berlin, 1911.
<TEI> <text> <body> <div> <pb facs="#f0011" n="11"/> <p><lb/> Gedächtnisrede auf Jacobus Henricus vanʼt Hof. 9</p> <p><lb/> Aus dem reichen Inhalt des Buches seien hier nur erwähnt die scharfe<lb/> Definition der Reaktionsgeschwindigkeit und deren Abhängigkeit von der<lb/> Temperatur, der Begriff des beweglichen Gleichgewichts und der Umwand-<lb/> lungstemperatur, die thermodynamische Berechnung der chemischen Affinität<lb/> und die Kritik des Berthelotschen Satzes von der maximalen Arbeit.<lb/> Obschon manche seiner Betrachtungen nicht ganz neu waren, so kann<lb/> doch die Wirkung, welche das Werk auf die chemische Dynamik ausübte,<lb/> dem Einfluß der Stereochemie auf das Studium der Kohlenstoffverbindungen<lb/> gleichgesetzt werden; denn van’t Hoff hat die neuen Begriffe im Gegen-<lb/> satz zu Gibbs, dem wir ganz ähnliche Studien vom mathematischen Stand-<lb/> punkt aus verdanken, im unmittelbaren Anschluß an die Wirklichkeit ge-<lb/> funden, und ihre Fruchtbarkeit an einem großen experimentellen Material<lb/> dargelegt.<lb/> Allerdings sollen seine mathematischen Ableitungen nach dem Urteil<lb/> der Sachverständigen nicht immer streng den Regeln der Kunst genügen.<lb/> Um so bewundernswerter ist seine Intuition, die ihn trotzdem stets zum<lb/> richtigen und meist durch Einfachheit ausgezeichneten Endresultat führte.<lb/> Die Bearbeitung des Affinitätsproblems, das mit der Gleichgewichts-<lb/> lehre im engen Zusammenhang steht und deshalb den Gegenstand der letzten<lb/> Kapitel der »Études de Dynamique chimique« bildet, hat van’t Hoffs<lb/> dritte und größte Entdeckung, die Theorie des osmotischen Drucks und<lb/> der Lösungen, zur Folge gehabt. In dem für die Kenntnis seiner Ideen-<lb/> entwicklung so wichtigen Vortrag vor der hiesigen chemischen Gesellschaft<lb/> im Dezember 1893 erzählte er selbst mit charakteristischen Wendungen,<lb/> wie jene Lehre entstanden ist.<lb/> Durch seinen botanischen Kollegen an der Universität Amsterdam,<lb/> de Vries, war er mit den Messungen des osmotischen Drucks durch den<lb/> Pflanzenphysiologen Pfeffer bekannt geworden und hatte sie alsbald be-<lb/> nutzt, um die Anziehung des Wassers durch Salze, z. B. Natriumsulfat,<lb/> zahlenmäßig festzustellen.<lb/> Als er dann ferner versuchte, eine für gasförmige Systeme von ihm<lb/> abgeleitete thermodynamische Gleichung auch für verdünnte Lösungen an-<lb/> zuwenden, kam ihm der glückliche Einfall, daß mit dem dort benutzten<lb/> Begriff der halbdurchlässigen Wand bei Lösungen die reversiblen Umwand-<lb/> lungen ebenfalls durchführbar sind. Aus diesem Gedanken ergab sich zu-<lb/> nächst die Übertragung der Gasgesetze von Boyle und Gay-Lussac auf<lb/> Phys.-math. Klasse. 1911. Gedächtnisr. I. 2</p> </div> </body> </text> </TEI> [11/0011]
Gedächtnisrede auf Jacobus Henricus vanʼt Hof. 9
Aus dem reichen Inhalt des Buches seien hier nur erwähnt die scharfe
Definition der Reaktionsgeschwindigkeit und deren Abhängigkeit von der
Temperatur, der Begriff des beweglichen Gleichgewichts und der Umwand-
lungstemperatur, die thermodynamische Berechnung der chemischen Affinität
und die Kritik des Berthelotschen Satzes von der maximalen Arbeit.
Obschon manche seiner Betrachtungen nicht ganz neu waren, so kann
doch die Wirkung, welche das Werk auf die chemische Dynamik ausübte,
dem Einfluß der Stereochemie auf das Studium der Kohlenstoffverbindungen
gleichgesetzt werden; denn van’t Hoff hat die neuen Begriffe im Gegen-
satz zu Gibbs, dem wir ganz ähnliche Studien vom mathematischen Stand-
punkt aus verdanken, im unmittelbaren Anschluß an die Wirklichkeit ge-
funden, und ihre Fruchtbarkeit an einem großen experimentellen Material
dargelegt.
Allerdings sollen seine mathematischen Ableitungen nach dem Urteil
der Sachverständigen nicht immer streng den Regeln der Kunst genügen.
Um so bewundernswerter ist seine Intuition, die ihn trotzdem stets zum
richtigen und meist durch Einfachheit ausgezeichneten Endresultat führte.
Die Bearbeitung des Affinitätsproblems, das mit der Gleichgewichts-
lehre im engen Zusammenhang steht und deshalb den Gegenstand der letzten
Kapitel der »Études de Dynamique chimique« bildet, hat van’t Hoffs
dritte und größte Entdeckung, die Theorie des osmotischen Drucks und
der Lösungen, zur Folge gehabt. In dem für die Kenntnis seiner Ideen-
entwicklung so wichtigen Vortrag vor der hiesigen chemischen Gesellschaft
im Dezember 1893 erzählte er selbst mit charakteristischen Wendungen,
wie jene Lehre entstanden ist.
Durch seinen botanischen Kollegen an der Universität Amsterdam,
de Vries, war er mit den Messungen des osmotischen Drucks durch den
Pflanzenphysiologen Pfeffer bekannt geworden und hatte sie alsbald be-
nutzt, um die Anziehung des Wassers durch Salze, z. B. Natriumsulfat,
zahlenmäßig festzustellen.
Als er dann ferner versuchte, eine für gasförmige Systeme von ihm
abgeleitete thermodynamische Gleichung auch für verdünnte Lösungen an-
zuwenden, kam ihm der glückliche Einfall, daß mit dem dort benutzten
Begriff der halbdurchlässigen Wand bei Lösungen die reversiblen Umwand-
lungen ebenfalls durchführbar sind. Aus diesem Gedanken ergab sich zu-
nächst die Übertragung der Gasgesetze von Boyle und Gay-Lussac auf
Phys.-math. Klasse. 1911. Gedächtnisr. I. 2
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