Thuns und Denkens vorausgesetzt werden zu müssen scheint. Und dennoch ist der Rang, den sie in dem gesammten geistigen Sein des Menschen einnimmt, nur ein unterge¬ ordneter. Ihr ganzes Verdienst ist ihr Vorhandensein; sie wahrnehmen ist alles, was der Mensch zu thun hat, um sich ihrer zu vergewissern. Wohl unterscheiden sich die Menschen in Ansehung des Umfanges und der Klarheit ihres sinnlich wahrgenommenen Wirklichkeitsbesitzes; diese Unterschiede beruhen aber doch nur auf Verschiedenheiten in den niederen Regionen sinnlich-geistiger Beanlagung; vielfach finden sie auch in den zufälligen Verschiedenheiten äußerer Umstände ihre hinreichende Erklärung. Auch der reichste und vollkommenste Sinnesbesitz läßt seinen Eigen¬ thümer nur auf einem sehr niedrigen Standpunkt erscheinen, so lange er nichts anderes bleibt, als Sinnesbesitz. Die geistige Entwickelung des Menschen beginnt erst da, wo er aufhört, sich bloß sinnlich wahrnehmend zu verhalten, wo er anfängt, die sinnlich wahrgenommene Wirklichkeit als ein gegebenes Material anzusehen und gemäß den Forderungen seines Verstandes zu bearbeiten, zu verwerthen, zu verwandeln.
Wie sehr das Denken von dieser Auffassung des Ver¬ hältnisses zwischen Besitz an Sinnenmaterial und geistiger Thätigkeit beherrscht wird, zeigt sich besonders deutlich in den Untersuchungen, die man über das ganze Gebiet der¬ jenigen psychischen Vorgänge anstellt, die in unmittelbarer Abhängigkeit von den Vorgängen in den Sinnesapparaten stehen. Ganz anders als die ältere Psychologie behandelt
Thuns und Denkens vorausgeſetzt werden zu müſſen ſcheint. Und dennoch iſt der Rang, den ſie in dem geſammten geiſtigen Sein des Menſchen einnimmt, nur ein unterge¬ ordneter. Ihr ganzes Verdienſt iſt ihr Vorhandenſein; ſie wahrnehmen iſt alles, was der Menſch zu thun hat, um ſich ihrer zu vergewiſſern. Wohl unterſcheiden ſich die Menſchen in Anſehung des Umfanges und der Klarheit ihres ſinnlich wahrgenommenen Wirklichkeitsbeſitzes; dieſe Unterſchiede beruhen aber doch nur auf Verſchiedenheiten in den niederen Regionen ſinnlich-geiſtiger Beanlagung; vielfach finden ſie auch in den zufälligen Verſchiedenheiten äußerer Umſtände ihre hinreichende Erklärung. Auch der reichſte und vollkommenſte Sinnesbeſitz läßt ſeinen Eigen¬ thümer nur auf einem ſehr niedrigen Standpunkt erſcheinen, ſo lange er nichts anderes bleibt, als Sinnesbeſitz. Die geiſtige Entwickelung des Menſchen beginnt erſt da, wo er aufhört, ſich bloß ſinnlich wahrnehmend zu verhalten, wo er anfängt, die ſinnlich wahrgenommene Wirklichkeit als ein gegebenes Material anzuſehen und gemäß den Forderungen ſeines Verſtandes zu bearbeiten, zu verwerthen, zu verwandeln.
Wie ſehr das Denken von dieſer Auffaſſung des Ver¬ hältniſſes zwiſchen Beſitz an Sinnenmaterial und geiſtiger Thätigkeit beherrſcht wird, zeigt ſich beſonders deutlich in den Unterſuchungen, die man über das ganze Gebiet der¬ jenigen pſychiſchen Vorgänge anſtellt, die in unmittelbarer Abhängigkeit von den Vorgängen in den Sinnesapparaten ſtehen. Ganz anders als die ältere Pſychologie behandelt
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Thuns und Denkens vorausgeſetzt werden zu müſſen ſcheint.
Und dennoch iſt der Rang, den ſie in dem geſammten
geiſtigen Sein des Menſchen einnimmt, nur ein unterge¬
ordneter. Ihr ganzes Verdienſt iſt ihr Vorhandenſein; ſie
wahrnehmen iſt alles, was der Menſch zu thun hat, um
ſich ihrer zu vergewiſſern. Wohl unterſcheiden ſich die
Menſchen in Anſehung des Umfanges und der Klarheit
ihres ſinnlich wahrgenommenen Wirklichkeitsbeſitzes; dieſe
Unterſchiede beruhen aber doch nur auf Verſchiedenheiten
in den niederen Regionen ſinnlich-geiſtiger Beanlagung;
vielfach finden ſie auch in den zufälligen Verſchiedenheiten
äußerer Umſtände ihre hinreichende Erklärung. Auch der
reichſte und vollkommenſte Sinnesbeſitz läßt ſeinen Eigen¬
thümer nur auf einem ſehr niedrigen Standpunkt erſcheinen,
ſo lange er nichts anderes bleibt, als Sinnesbeſitz. Die
geiſtige Entwickelung des Menſchen beginnt erſt da, wo
er aufhört, ſich bloß ſinnlich wahrnehmend zu verhalten,
wo er anfängt, die ſinnlich wahrgenommene Wirklichkeit
als ein gegebenes Material anzuſehen und gemäß den
Forderungen ſeines Verſtandes zu bearbeiten, zu verwerthen,
zu verwandeln.
Wie ſehr das Denken von dieſer Auffaſſung des Ver¬
hältniſſes zwiſchen Beſitz an Sinnenmaterial und geiſtiger
Thätigkeit beherrſcht wird, zeigt ſich beſonders deutlich in
den Unterſuchungen, die man über das ganze Gebiet der¬
jenigen pſychiſchen Vorgänge anſtellt, die in unmittelbarer
Abhängigkeit von den Vorgängen in den Sinnesapparaten
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Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/42>, abgerufen am 16.07.2024.
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