sehen wir alle Möglichkeit einer Entwickelung des geistigen Lebens, einer Ausbildung der den Menschen über seine Mitgeschöpfe erhebenden Fähigkeiten an die Denkthätigkeit gebunden, aber wir können uns der Einsicht nicht ver¬ schließen, daß die Welt des Denkens in allen ihren Be¬ standtheilen ein Erzeugniß menschlicher Thätigkeit sei, und durch keinerlei Autorität, die außerhalb dieser Thätigkeit, über derselben stände, gegen Irrthum, Zweifel und An¬ fechtung gesichert werden könne. In der Welt der Sinnes¬ wahrnehmungen dagegen, wenn auch ihre Möglichkeit an die Functionen der Sinnesorgane gebunden ist, erscheint doch ein Vorhandenes unmittelbar und ein für allemal gegeben. Die Welt, wie sie sich den Sinnen darstellt, ist die gegebene Welt aller Menschen und aller Zeiten, sie ist das gemeinsame Erbtheil, welches uns allen zufällt, ohne daß wir uns darum zu bemühen brauchten; sie ist der feste Grund und Boden, auf dem wir mit unseren Mitgeschöpfen stehen, von dem wir wissen, daß er derselbe war für die vergangenen, daß er derselbe sein wird für die kommenden Geschlechter; sie ist der Ausgangspunkt für den Erkenntniß suchenden Geist, und zugleich die letzte Instanz, auf die sich dieser zurückgewiesen sieht, wenn er die Zuverlässigkeit seiner Sätze gegen Zweifel und Anfechtung zu vertheidigen hat.
So hat die Welt des sinnlichen Erscheinens einen unbestrittenen Vorzug vor der Welt, die sich aus geistigen Operationen aufbaut und in ihrem Sein an die Formen des Denkens gebunden ist; sie hat eine gewisse Würde, weil ihre Herkunft jenseits der Sphäre alles menschlichen
ſehen wir alle Möglichkeit einer Entwickelung des geiſtigen Lebens, einer Ausbildung der den Menſchen über ſeine Mitgeſchöpfe erhebenden Fähigkeiten an die Denkthätigkeit gebunden, aber wir können uns der Einſicht nicht ver¬ ſchließen, daß die Welt des Denkens in allen ihren Be¬ ſtandtheilen ein Erzeugniß menſchlicher Thätigkeit ſei, und durch keinerlei Autorität, die außerhalb dieſer Thätigkeit, über derſelben ſtände, gegen Irrthum, Zweifel und An¬ fechtung geſichert werden könne. In der Welt der Sinnes¬ wahrnehmungen dagegen, wenn auch ihre Möglichkeit an die Functionen der Sinnesorgane gebunden iſt, erſcheint doch ein Vorhandenes unmittelbar und ein für allemal gegeben. Die Welt, wie ſie ſich den Sinnen darſtellt, iſt die gegebene Welt aller Menſchen und aller Zeiten, ſie iſt das gemeinſame Erbtheil, welches uns allen zufällt, ohne daß wir uns darum zu bemühen brauchten; ſie iſt der feſte Grund und Boden, auf dem wir mit unſeren Mitgeſchöpfen ſtehen, von dem wir wiſſen, daß er derſelbe war für die vergangenen, daß er derſelbe ſein wird für die kommenden Geſchlechter; ſie iſt der Ausgangspunkt für den Erkenntniß ſuchenden Geiſt, und zugleich die letzte Inſtanz, auf die ſich dieſer zurückgewieſen ſieht, wenn er die Zuverläſſigkeit ſeiner Sätze gegen Zweifel und Anfechtung zu vertheidigen hat.
So hat die Welt des ſinnlichen Erſcheinens einen unbeſtrittenen Vorzug vor der Welt, die ſich aus geiſtigen Operationen aufbaut und in ihrem Sein an die Formen des Denkens gebunden iſt; ſie hat eine gewiſſe Würde, weil ihre Herkunft jenſeits der Sphäre alles menſchlichen
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ſehen wir alle Möglichkeit einer Entwickelung des geiſtigen
Lebens, einer Ausbildung der den Menſchen über ſeine
Mitgeſchöpfe erhebenden Fähigkeiten an die Denkthätigkeit
gebunden, aber wir können uns der Einſicht nicht ver¬
ſchließen, daß die Welt des Denkens in allen ihren Be¬
ſtandtheilen ein Erzeugniß menſchlicher Thätigkeit ſei, und
durch keinerlei Autorität, die außerhalb dieſer Thätigkeit,
über derſelben ſtände, gegen Irrthum, Zweifel und An¬
fechtung geſichert werden könne. In der Welt der Sinnes¬
wahrnehmungen dagegen, wenn auch ihre Möglichkeit an
die Functionen der Sinnesorgane gebunden iſt, erſcheint
doch ein Vorhandenes unmittelbar und ein für allemal
gegeben. Die Welt, wie ſie ſich den Sinnen darſtellt, iſt
die gegebene Welt aller Menſchen und aller Zeiten, ſie iſt
das gemeinſame Erbtheil, welches uns allen zufällt, ohne
daß wir uns darum zu bemühen brauchten; ſie iſt der feſte
Grund und Boden, auf dem wir mit unſeren Mitgeſchöpfen
ſtehen, von dem wir wiſſen, daß er derſelbe war für die
vergangenen, daß er derſelbe ſein wird für die kommenden
Geſchlechter; ſie iſt der Ausgangspunkt für den Erkenntniß
ſuchenden Geiſt, und zugleich die letzte Inſtanz, auf die ſich
dieſer zurückgewieſen ſieht, wenn er die Zuverläſſigkeit ſeiner
Sätze gegen Zweifel und Anfechtung zu vertheidigen hat.
So hat die Welt des ſinnlichen Erſcheinens einen
unbeſtrittenen Vorzug vor der Welt, die ſich aus geiſtigen
Operationen aufbaut und in ihrem Sein an die Formen
des Denkens gebunden iſt; ſie hat eine gewiſſe Würde,
weil ihre Herkunft jenſeits der Sphäre alles menſchlichen
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Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/41>, abgerufen am 16.07.2024.
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