Möglichkeit der Erkenntniß zweifelhaft wird, wenn kritisches Nachdenken lehrt, daß das, was wir Wahrheit zu nennen berechtigt sind, nirgends zu finden ist, als in den jeweiligen Resultaten, zu denen die geistige Thätigkeit des Menschen, sich immer erneuernd, sich immer entwickelnd, bildend, zer¬ störend und wieder bildend gelangt, so ist der auf un¬ mittelbarer sinnlicher Wahrnehmung beruhende Wirklich¬ keitsbesitz, wenn er auch nach seinem bloßen Erscheinungs¬ werthe anerkannt wird, der sichere Halt innerhalb einer Welt des Seienden, welche sich dem tieferen Nachdenken als ein mehr oder minder unsicherer Gedankenbesitz dar¬ stellt. Hier erscheint der Mensch in der That mehr em¬ pfangend als thätig; auch wenn er sich darüber klar ist, daß er die Vorstellung einer gegenständlichen Welt mit allen ihren sinnlichen Qualitäten der Function seiner Sinnes¬ werkzeuge verdankt, so empfängt er doch die Gewißheit dieser sinnlichen Wirklichkeit weniger als das Resultat einer sich in ihm und durch ihn vollziehenden Thätigkeit, als vielmehr als unmittelbar gegenwärtigen Eindruck, so¬ bald nur die sinnliche Empfänglichkeit vorhanden ist. Während jeder Schritt auf der Bahn des Wissens und Erkennens einen Aufwand von geistiger Energie erfordert, so fällt uns die Welt, soweit sie sinnlich wahrnehmbar ist, gleichsam als Geschenk zu, sobald wir nur ins Leben ein¬ treten. Die Natur selbst lehrt den Gebrauch der Sinne; das Denken bedarf der Unterweisung. Was Wunder, daß wir auf festem Grund zu stehen meinen, solange wir den Boden sinnlicher Wahrnehmung nicht verlassen? Zwar
Möglichkeit der Erkenntniß zweifelhaft wird, wenn kritiſches Nachdenken lehrt, daß das, was wir Wahrheit zu nennen berechtigt ſind, nirgends zu finden iſt, als in den jeweiligen Reſultaten, zu denen die geiſtige Thätigkeit des Menſchen, ſich immer erneuernd, ſich immer entwickelnd, bildend, zer¬ ſtörend und wieder bildend gelangt, ſo iſt der auf un¬ mittelbarer ſinnlicher Wahrnehmung beruhende Wirklich¬ keitsbeſitz, wenn er auch nach ſeinem bloßen Erſcheinungs¬ werthe anerkannt wird, der ſichere Halt innerhalb einer Welt des Seienden, welche ſich dem tieferen Nachdenken als ein mehr oder minder unſicherer Gedankenbeſitz dar¬ ſtellt. Hier erſcheint der Menſch in der That mehr em¬ pfangend als thätig; auch wenn er ſich darüber klar iſt, daß er die Vorſtellung einer gegenſtändlichen Welt mit allen ihren ſinnlichen Qualitäten der Function ſeiner Sinnes¬ werkzeuge verdankt, ſo empfängt er doch die Gewißheit dieſer ſinnlichen Wirklichkeit weniger als das Reſultat einer ſich in ihm und durch ihn vollziehenden Thätigkeit, als vielmehr als unmittelbar gegenwärtigen Eindruck, ſo¬ bald nur die ſinnliche Empfänglichkeit vorhanden iſt. Während jeder Schritt auf der Bahn des Wiſſens und Erkennens einen Aufwand von geiſtiger Energie erfordert, ſo fällt uns die Welt, ſoweit ſie ſinnlich wahrnehmbar iſt, gleichſam als Geſchenk zu, ſobald wir nur ins Leben ein¬ treten. Die Natur ſelbſt lehrt den Gebrauch der Sinne; das Denken bedarf der Unterweiſung. Was Wunder, daß wir auf feſtem Grund zu ſtehen meinen, ſolange wir den Boden ſinnlicher Wahrnehmung nicht verlaſſen? Zwar
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0040"n="28"/>
Möglichkeit der Erkenntniß zweifelhaft wird, wenn kritiſches<lb/>
Nachdenken lehrt, daß das, was wir Wahrheit zu nennen<lb/>
berechtigt ſind, nirgends zu finden iſt, als in den jeweiligen<lb/>
Reſultaten, zu denen die geiſtige Thätigkeit des Menſchen,<lb/>ſich immer erneuernd, ſich immer entwickelnd, bildend, zer¬<lb/>ſtörend und wieder bildend gelangt, ſo iſt der auf un¬<lb/>
mittelbarer ſinnlicher Wahrnehmung beruhende Wirklich¬<lb/>
keitsbeſitz, wenn er auch nach ſeinem bloßen Erſcheinungs¬<lb/>
werthe anerkannt wird, der ſichere Halt innerhalb einer<lb/>
Welt des Seienden, welche ſich dem tieferen Nachdenken<lb/>
als ein mehr oder minder unſicherer Gedankenbeſitz dar¬<lb/>ſtellt. Hier erſcheint der Menſch in der That mehr em¬<lb/>
pfangend als thätig; auch wenn er ſich darüber klar iſt,<lb/>
daß er die Vorſtellung einer gegenſtändlichen Welt mit<lb/>
allen ihren ſinnlichen Qualitäten der Function ſeiner Sinnes¬<lb/>
werkzeuge verdankt, ſo empfängt er doch die Gewißheit<lb/>
dieſer ſinnlichen Wirklichkeit weniger als das Reſultat<lb/>
einer ſich in ihm und durch ihn vollziehenden Thätigkeit,<lb/>
als vielmehr als unmittelbar gegenwärtigen Eindruck, ſo¬<lb/>
bald nur die ſinnliche Empfänglichkeit vorhanden iſt.<lb/>
Während jeder Schritt auf der Bahn des Wiſſens und<lb/>
Erkennens einen Aufwand von geiſtiger Energie erfordert,<lb/>ſo fällt uns die Welt, ſoweit ſie ſinnlich wahrnehmbar iſt,<lb/>
gleichſam als Geſchenk zu, ſobald wir nur ins Leben ein¬<lb/>
treten. Die Natur ſelbſt lehrt den Gebrauch der Sinne;<lb/>
das Denken bedarf der Unterweiſung. Was Wunder, daß<lb/>
wir auf feſtem Grund zu ſtehen meinen, ſolange wir den<lb/>
Boden ſinnlicher Wahrnehmung nicht verlaſſen? Zwar<lb/></p></div></body></text></TEI>
[28/0040]
Möglichkeit der Erkenntniß zweifelhaft wird, wenn kritiſches
Nachdenken lehrt, daß das, was wir Wahrheit zu nennen
berechtigt ſind, nirgends zu finden iſt, als in den jeweiligen
Reſultaten, zu denen die geiſtige Thätigkeit des Menſchen,
ſich immer erneuernd, ſich immer entwickelnd, bildend, zer¬
ſtörend und wieder bildend gelangt, ſo iſt der auf un¬
mittelbarer ſinnlicher Wahrnehmung beruhende Wirklich¬
keitsbeſitz, wenn er auch nach ſeinem bloßen Erſcheinungs¬
werthe anerkannt wird, der ſichere Halt innerhalb einer
Welt des Seienden, welche ſich dem tieferen Nachdenken
als ein mehr oder minder unſicherer Gedankenbeſitz dar¬
ſtellt. Hier erſcheint der Menſch in der That mehr em¬
pfangend als thätig; auch wenn er ſich darüber klar iſt,
daß er die Vorſtellung einer gegenſtändlichen Welt mit
allen ihren ſinnlichen Qualitäten der Function ſeiner Sinnes¬
werkzeuge verdankt, ſo empfängt er doch die Gewißheit
dieſer ſinnlichen Wirklichkeit weniger als das Reſultat
einer ſich in ihm und durch ihn vollziehenden Thätigkeit,
als vielmehr als unmittelbar gegenwärtigen Eindruck, ſo¬
bald nur die ſinnliche Empfänglichkeit vorhanden iſt.
Während jeder Schritt auf der Bahn des Wiſſens und
Erkennens einen Aufwand von geiſtiger Energie erfordert,
ſo fällt uns die Welt, ſoweit ſie ſinnlich wahrnehmbar iſt,
gleichſam als Geſchenk zu, ſobald wir nur ins Leben ein¬
treten. Die Natur ſelbſt lehrt den Gebrauch der Sinne;
das Denken bedarf der Unterweiſung. Was Wunder, daß
wir auf feſtem Grund zu ſtehen meinen, ſolange wir den
Boden ſinnlicher Wahrnehmung nicht verlaſſen? Zwar
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/40>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.