Die sehr verbreitete Ueberschätzung des theoretischen Wissens und Erkennens schlägt leicht bei denen in eine Unterschätzung um, die es in seinem eigentlichen Wesen durchschaut haben. In der That hat die Erkenntniß, daß aller theoretische Wirklichkeitsbesitz ein Wortbesitz ist, etwas Entmuthigendes. Selbst da, wo man mit dem Denken der Sinnlichkeit unmittelbar nahe ist, wo man in demselben Augenblick, in welchem ein concreter Bestandtheil des Den¬ kens vor das Bewußtsein tritt, unwillkürlich den Uebergang zu einem sinnlich Gegebenen macht, wo also das sinnlich Gegebene recht eigentlich der Gegenstand selbst des Denkens zu sein scheint; selbst da sieht man sich durch die einfache Thatsache, daß man sich denkend verhält, durch eine nicht auszufüllende Kluft von dem sinnlichen Stoff der Er¬ fahrung getrennt. Das, was sich den Sinnen in seiner eigensten Naturgestalt offenbart, unterliegt, wie schon er¬ wähnt, durch die bloße Berührung des denkenden Geistes einer Verwandlung, und das, was man thatsächlich besitzt, erinnert in nichts mehr an das, was man hat ergreifen wollen. Sind nicht diejenigen im Recht, die sich allen Denkens und Wissens entschlagen und die Wirklichkeit nur
2.
Die ſehr verbreitete Ueberſchätzung des theoretiſchen Wiſſens und Erkennens ſchlägt leicht bei denen in eine Unterſchätzung um, die es in ſeinem eigentlichen Weſen durchſchaut haben. In der That hat die Erkenntniß, daß aller theoretiſche Wirklichkeitsbeſitz ein Wortbeſitz iſt, etwas Entmuthigendes. Selbſt da, wo man mit dem Denken der Sinnlichkeit unmittelbar nahe iſt, wo man in demſelben Augenblick, in welchem ein concreter Beſtandtheil des Den¬ kens vor das Bewußtſein tritt, unwillkürlich den Uebergang zu einem ſinnlich Gegebenen macht, wo alſo das ſinnlich Gegebene recht eigentlich der Gegenſtand ſelbſt des Denkens zu ſein ſcheint; ſelbſt da ſieht man ſich durch die einfache Thatſache, daß man ſich denkend verhält, durch eine nicht auszufüllende Kluft von dem ſinnlichen Stoff der Er¬ fahrung getrennt. Das, was ſich den Sinnen in ſeiner eigenſten Naturgeſtalt offenbart, unterliegt, wie ſchon er¬ wähnt, durch die bloße Berührung des denkenden Geiſtes einer Verwandlung, und das, was man thatſächlich beſitzt, erinnert in nichts mehr an das, was man hat ergreifen wollen. Sind nicht diejenigen im Recht, die ſich allen Denkens und Wiſſens entſchlagen und die Wirklichkeit nur
<TEI><text><body><pbn="[24]"facs="#f0036"/><divn="1"><head>2.<lb/></head><p>Die ſehr verbreitete Ueberſchätzung des theoretiſchen<lb/>
Wiſſens und Erkennens ſchlägt leicht bei denen in eine<lb/>
Unterſchätzung um, die es in ſeinem eigentlichen Weſen<lb/>
durchſchaut haben. In der That hat die Erkenntniß, daß<lb/>
aller theoretiſche Wirklichkeitsbeſitz ein Wortbeſitz iſt, etwas<lb/>
Entmuthigendes. Selbſt da, wo man mit dem Denken der<lb/>
Sinnlichkeit unmittelbar nahe iſt, wo man in demſelben<lb/>
Augenblick, in welchem ein concreter Beſtandtheil des Den¬<lb/>
kens vor das Bewußtſein tritt, unwillkürlich den Uebergang<lb/>
zu einem ſinnlich Gegebenen macht, wo alſo das ſinnlich<lb/>
Gegebene recht eigentlich der Gegenſtand ſelbſt des Denkens<lb/>
zu ſein ſcheint; ſelbſt da ſieht man ſich durch die einfache<lb/>
Thatſache, daß man ſich denkend verhält, durch eine nicht<lb/>
auszufüllende Kluft von dem ſinnlichen Stoff der Er¬<lb/>
fahrung getrennt. Das, was ſich den Sinnen in ſeiner<lb/>
eigenſten Naturgeſtalt offenbart, unterliegt, wie ſchon er¬<lb/>
wähnt, durch die bloße Berührung des denkenden Geiſtes<lb/>
einer Verwandlung, und das, was man thatſächlich beſitzt,<lb/>
erinnert in nichts mehr an das, was man hat ergreifen<lb/>
wollen. Sind nicht diejenigen im Recht, die ſich allen<lb/>
Denkens und Wiſſens entſchlagen und die Wirklichkeit nur<lb/></p></div></body></text></TEI>
[[24]/0036]
2.
Die ſehr verbreitete Ueberſchätzung des theoretiſchen
Wiſſens und Erkennens ſchlägt leicht bei denen in eine
Unterſchätzung um, die es in ſeinem eigentlichen Weſen
durchſchaut haben. In der That hat die Erkenntniß, daß
aller theoretiſche Wirklichkeitsbeſitz ein Wortbeſitz iſt, etwas
Entmuthigendes. Selbſt da, wo man mit dem Denken der
Sinnlichkeit unmittelbar nahe iſt, wo man in demſelben
Augenblick, in welchem ein concreter Beſtandtheil des Den¬
kens vor das Bewußtſein tritt, unwillkürlich den Uebergang
zu einem ſinnlich Gegebenen macht, wo alſo das ſinnlich
Gegebene recht eigentlich der Gegenſtand ſelbſt des Denkens
zu ſein ſcheint; ſelbſt da ſieht man ſich durch die einfache
Thatſache, daß man ſich denkend verhält, durch eine nicht
auszufüllende Kluft von dem ſinnlichen Stoff der Er¬
fahrung getrennt. Das, was ſich den Sinnen in ſeiner
eigenſten Naturgeſtalt offenbart, unterliegt, wie ſchon er¬
wähnt, durch die bloße Berührung des denkenden Geiſtes
einer Verwandlung, und das, was man thatſächlich beſitzt,
erinnert in nichts mehr an das, was man hat ergreifen
wollen. Sind nicht diejenigen im Recht, die ſich allen
Denkens und Wiſſens entſchlagen und die Wirklichkeit nur
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. [24]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/36>, abgerufen am 04.03.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.