stetig fortschreitenden Entwickelung zu haben scheint, dem Vorwärtsstreben des erkennenden Geistes, dem Bildungs¬ bedürfniß der sittlichen Anlage, der Sehnsucht der ästhe¬ tischen Empfänglichkeit: der Künstler -- das haben wir gesehen -- erreicht seine höchsten Ziele nicht dadurch, daß er seine Kraft diesen Mächten unterthan macht, sondern dadurch, daß er ihnen widersteht und im Siege über sie sich auf seinem eigenen Gebiete behauptet. Und so müssen wir auch die volle Consequenz anerkennen, daß, sofern die Kunst im höchsten Sinne das ist, als was wir sie darge¬ stellt haben, an ihrem Dasein keiner von den Bestandtheilen des geistigen, sittlichen, ästhetischen Lebens, an die man den Fortschritt, die Veredlung, die Vervollkommnung der menschlichen Natur gebunden erachtet, irgend ein Interesse haben kann. Erst wenn wir zu dieser Unbefangenheit der Kunst gegenüber gelangt sind, können wir ihr etwas ver¬ danken, was freilich etwas ganz anderes ist, als die För¬ derung unserer wissenden, wollenden, ästhetisch empfindenden Natur. Wir folgen dem Künstler, wo dieser sich erhebt aus dem großen Getriebe der Bestrebungen, die jedes Thun nur als Mittel zu einem Zweck, jedes Dasein nur als Vorbereitung auf ein zu erwartendes Dasein erscheinen lassen; nicht als Wirkung auf einem entlegenen Lebens¬ gebiete, noch auch von einer ungewissen Zukunft werden wir das erwarten, was uns die Kunst sein kann; was sie uns leistet, das leistet sie ausschließlich in sich und in jedem Augenblicke voll und ganz. Indem sie uns empor¬ führt zu dem Grade der Vergegenwärtigung des Seins,
ſtetig fortſchreitenden Entwickelung zu haben ſcheint, dem Vorwärtsſtreben des erkennenden Geiſtes, dem Bildungs¬ bedürfniß der ſittlichen Anlage, der Sehnſucht der äſthe¬ tiſchen Empfänglichkeit: der Künſtler — das haben wir geſehen — erreicht ſeine höchſten Ziele nicht dadurch, daß er ſeine Kraft dieſen Mächten unterthan macht, ſondern dadurch, daß er ihnen widerſteht und im Siege über ſie ſich auf ſeinem eigenen Gebiete behauptet. Und ſo müſſen wir auch die volle Conſequenz anerkennen, daß, ſofern die Kunſt im höchſten Sinne das iſt, als was wir ſie darge¬ ſtellt haben, an ihrem Daſein keiner von den Beſtandtheilen des geiſtigen, ſittlichen, äſthetiſchen Lebens, an die man den Fortſchritt, die Veredlung, die Vervollkommnung der menſchlichen Natur gebunden erachtet, irgend ein Intereſſe haben kann. Erſt wenn wir zu dieſer Unbefangenheit der Kunſt gegenüber gelangt ſind, können wir ihr etwas ver¬ danken, was freilich etwas ganz anderes iſt, als die För¬ derung unſerer wiſſenden, wollenden, äſthetiſch empfindenden Natur. Wir folgen dem Künſtler, wo dieſer ſich erhebt aus dem großen Getriebe der Beſtrebungen, die jedes Thun nur als Mittel zu einem Zweck, jedes Daſein nur als Vorbereitung auf ein zu erwartendes Daſein erſcheinen laſſen; nicht als Wirkung auf einem entlegenen Lebens¬ gebiete, noch auch von einer ungewiſſen Zukunft werden wir das erwarten, was uns die Kunſt ſein kann; was ſie uns leiſtet, das leiſtet ſie ausſchließlich in ſich und in jedem Augenblicke voll und ganz. Indem ſie uns empor¬ führt zu dem Grade der Vergegenwärtigung des Seins,
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ſtetig fortſchreitenden Entwickelung zu haben ſcheint, dem
Vorwärtsſtreben des erkennenden Geiſtes, dem Bildungs¬
bedürfniß der ſittlichen Anlage, der Sehnſucht der äſthe¬
tiſchen Empfänglichkeit: der Künſtler — das haben wir
geſehen — erreicht ſeine höchſten Ziele nicht dadurch, daß
er ſeine Kraft dieſen Mächten unterthan macht, ſondern
dadurch, daß er ihnen widerſteht und im Siege über ſie
ſich auf ſeinem eigenen Gebiete behauptet. Und ſo müſſen
wir auch die volle Conſequenz anerkennen, daß, ſofern die
Kunſt im höchſten Sinne das iſt, als was wir ſie darge¬
ſtellt haben, an ihrem Daſein keiner von den Beſtandtheilen
des geiſtigen, ſittlichen, äſthetiſchen Lebens, an die man
den Fortſchritt, die Veredlung, die Vervollkommnung der
menſchlichen Natur gebunden erachtet, irgend ein Intereſſe
haben kann. Erſt wenn wir zu dieſer Unbefangenheit der
Kunſt gegenüber gelangt ſind, können wir ihr etwas ver¬
danken, was freilich etwas ganz anderes iſt, als die För¬
derung unſerer wiſſenden, wollenden, äſthetiſch empfindenden
Natur. Wir folgen dem Künſtler, wo dieſer ſich erhebt
aus dem großen Getriebe der Beſtrebungen, die jedes
Thun nur als Mittel zu einem Zweck, jedes Daſein nur
als Vorbereitung auf ein zu erwartendes Daſein erſcheinen
laſſen; nicht als Wirkung auf einem entlegenen Lebens¬
gebiete, noch auch von einer ungewiſſen Zukunft werden
wir das erwarten, was uns die Kunſt ſein kann; was ſie
uns leiſtet, das leiſtet ſie ausſchließlich in ſich und in
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Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/185>, abgerufen am 16.02.2025.
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