überall werden wir künstlerisches Bemühen erwachen und erblühen sehen; bald nur kümmerlich und bescheiden sich hervorwagend, bald gesund und kräftig sich entfaltend, bald wuchernd und verwildernd. Und wenn oft lange Zeit hindurch der unzulänglichen Begabung nur die äußeren Gebiete jenes Reiches des sichtbaren Seins zugänglich bleiben; so staunen wir mit Recht, wenn wir bei einzelnen Völkern und während eng begrenzter Zeiträume wahr¬ nehmen, daß sich plötzlich jenes Reich vor der ungewöhn¬ lichen Kraft bis in seine innersten Räume aufthut und uns einen herrlichen Reichthum vollendeter Gebilde offenbart.
Das unendlich verschiedene Maß an jeweilig vor¬ handener künstlerischer Kraft ist es auch allein, welches den Gang der Kunst bestimmt. Wohl bilden sich unter all den Erzeugnissen, die bei aller Verschiedenheit ihrer Erscheinung und ihres Entwickelungsgrades doch einem gleichartigen Bedürfniß und einer gleichartigen Begabung entspringen, über zeitliche Abstände und räumliche Tren¬ nungen hinweg mancherlei Abhängigkeitsverhältnisse. Durch die thatsächlichen Anregungen, die das Spätere von dem Früheren empfängt, verbunden mit dem Neuen, was das Spätere vor dem Früheren voraus hat, wird die Annahme begünstigt, daß die künstlerische Leistungsfähigkeit der Men¬ schen sich in einem großen Entwickelungsgange von dem Niederen zum Höheren, von dem Unvollkommenen zum Vollkommneren bewege. Und doch ist die Macht, die der geschichtliche Zusammenhang auf das künstlerische Thun ausübt, unendlich geringfügig im Vergleich zu der Macht,
überall werden wir künſtleriſches Bemühen erwachen und erblühen ſehen; bald nur kümmerlich und beſcheiden ſich hervorwagend, bald geſund und kräftig ſich entfaltend, bald wuchernd und verwildernd. Und wenn oft lange Zeit hindurch der unzulänglichen Begabung nur die äußeren Gebiete jenes Reiches des ſichtbaren Seins zugänglich bleiben; ſo ſtaunen wir mit Recht, wenn wir bei einzelnen Völkern und während eng begrenzter Zeiträume wahr¬ nehmen, daß ſich plötzlich jenes Reich vor der ungewöhn¬ lichen Kraft bis in ſeine innerſten Räume aufthut und uns einen herrlichen Reichthum vollendeter Gebilde offenbart.
Das unendlich verſchiedene Maß an jeweilig vor¬ handener künſtleriſcher Kraft iſt es auch allein, welches den Gang der Kunſt beſtimmt. Wohl bilden ſich unter all den Erzeugniſſen, die bei aller Verſchiedenheit ihrer Erſcheinung und ihres Entwickelungsgrades doch einem gleichartigen Bedürfniß und einer gleichartigen Begabung entſpringen, über zeitliche Abſtände und räumliche Tren¬ nungen hinweg mancherlei Abhängigkeitsverhältniſſe. Durch die thatſächlichen Anregungen, die das Spätere von dem Früheren empfängt, verbunden mit dem Neuen, was das Spätere vor dem Früheren voraus hat, wird die Annahme begünſtigt, daß die künſtleriſche Leiſtungsfähigkeit der Men¬ ſchen ſich in einem großen Entwickelungsgange von dem Niederen zum Höheren, von dem Unvollkommenen zum Vollkommneren bewege. Und doch iſt die Macht, die der geſchichtliche Zuſammenhang auf das künſtleriſche Thun ausübt, unendlich geringfügig im Vergleich zu der Macht,
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überall werden wir künſtleriſches Bemühen erwachen und
erblühen ſehen; bald nur kümmerlich und beſcheiden ſich
hervorwagend, bald geſund und kräftig ſich entfaltend,
bald wuchernd und verwildernd. Und wenn oft lange
Zeit hindurch der unzulänglichen Begabung nur die äußeren
Gebiete jenes Reiches des ſichtbaren Seins zugänglich
bleiben; ſo ſtaunen wir mit Recht, wenn wir bei einzelnen
Völkern und während eng begrenzter Zeiträume wahr¬
nehmen, daß ſich plötzlich jenes Reich vor der ungewöhn¬
lichen Kraft bis in ſeine innerſten Räume aufthut und uns
einen herrlichen Reichthum vollendeter Gebilde offenbart.
Das unendlich verſchiedene Maß an jeweilig vor¬
handener künſtleriſcher Kraft iſt es auch allein, welches
den Gang der Kunſt beſtimmt. Wohl bilden ſich unter
all den Erzeugniſſen, die bei aller Verſchiedenheit ihrer
Erſcheinung und ihres Entwickelungsgrades doch einem
gleichartigen Bedürfniß und einer gleichartigen Begabung
entſpringen, über zeitliche Abſtände und räumliche Tren¬
nungen hinweg mancherlei Abhängigkeitsverhältniſſe. Durch
die thatſächlichen Anregungen, die das Spätere von dem
Früheren empfängt, verbunden mit dem Neuen, was das
Spätere vor dem Früheren voraus hat, wird die Annahme
begünſtigt, daß die künſtleriſche Leiſtungsfähigkeit der Men¬
ſchen ſich in einem großen Entwickelungsgange von dem
Niederen zum Höheren, von dem Unvollkommenen zum
Vollkommneren bewege. Und doch iſt die Macht, die der
geſchichtliche Zuſammenhang auf das künſtleriſche Thun
ausübt, unendlich geringfügig im Vergleich zu der Macht,
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Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/148>, abgerufen am 20.07.2024.
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