Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887.Nicht mehr der Welt greifbarer Körperlichkeit scheinen wir Fiedler, Ursprung. 7
Nicht mehr der Welt greifbarer Körperlichkeit ſcheinen wir Fiedler, Urſprung. 7
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0109" n="97"/> <p>Nicht mehr der Welt greifbarer Körperlichkeit ſcheinen wir<lb/> uns gegenüber zu befinden; es iſt nicht die alltägliche Welt,<lb/> der Schauplatz unſeres Lebens und Handelns, der Gegen¬<lb/> ſtand unſeres Wiſſens und Erkennens; und doch iſt es<lb/> dieſelbe Welt, die wir kennen, aber nun gleichſam an<lb/> einem Feſttag geſehen. Wir befinden uns in einem traum¬<lb/> haften Zuſtand, und die Thatſache der ſichtbaren Er¬<lb/> ſcheinung allein iſt es, die zu unſeren ſtaunenden Sinnen<lb/> ſpricht. Wir vergeſſen uns ſelbſt, wir verſenken uns in<lb/> den ſchauenden Zuſtand, und indem ſo das erſcheinende<lb/> Daſein der Dinge mit immer größerer Macht uns ent¬<lb/> gegentritt, immer unmittelbarer ſich uns darbietet, unſer<lb/> ganzes Sein erfüllt und ſchließlich in ſich aufzunehmen<lb/> ſcheint, meinen wir, einer Offenbarung jedes Naturgeheim¬<lb/> niſſes beizuwohnen, im Vergleich zu der uns alle mühſam<lb/> errungene Kenntniß als ein armſeliges Stückwerk erſcheinen<lb/> muß, und die uns um ſo überzeugender dünkt, als ſie uns<lb/> mühelos zu theil wird und keinen Beweis und keine Rechen¬<lb/> ſchaft fordert. Wer hätte nicht ſchon ſolche Augenblicke<lb/> erlebt, in denen die Iſolirung der ſinnlichen Wahrnehmung<lb/> mit einer beſonderen Reizbarkeit des Gefühls zuſammen¬<lb/> traf und jene Stimmung erzeugte, in der man ſich der<lb/> Natur in viel umfaſſenderer und eindringlicherer Weiſe zu<lb/> bemächtigen meinte, als dies je im praktiſchen oder theoreti¬<lb/> ſchen Sinne gelungen war? Wer ſolchen Anſchauungsge¬<lb/> nuſſes fähig iſt, der wird, wo er ihn der Natur nur unter<lb/> beſonderen, ſeltenen Umſtänden verdanken kann, ſich dem<lb/> Reiche der Kunſt zuwenden, und hier eine reiche, ſich mühe¬<lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Fiedler</hi>, Urſprung. 7<lb/></fw> </p> </div> </body> </text> </TEI> [97/0109]
Nicht mehr der Welt greifbarer Körperlichkeit ſcheinen wir
uns gegenüber zu befinden; es iſt nicht die alltägliche Welt,
der Schauplatz unſeres Lebens und Handelns, der Gegen¬
ſtand unſeres Wiſſens und Erkennens; und doch iſt es
dieſelbe Welt, die wir kennen, aber nun gleichſam an
einem Feſttag geſehen. Wir befinden uns in einem traum¬
haften Zuſtand, und die Thatſache der ſichtbaren Er¬
ſcheinung allein iſt es, die zu unſeren ſtaunenden Sinnen
ſpricht. Wir vergeſſen uns ſelbſt, wir verſenken uns in
den ſchauenden Zuſtand, und indem ſo das erſcheinende
Daſein der Dinge mit immer größerer Macht uns ent¬
gegentritt, immer unmittelbarer ſich uns darbietet, unſer
ganzes Sein erfüllt und ſchließlich in ſich aufzunehmen
ſcheint, meinen wir, einer Offenbarung jedes Naturgeheim¬
niſſes beizuwohnen, im Vergleich zu der uns alle mühſam
errungene Kenntniß als ein armſeliges Stückwerk erſcheinen
muß, und die uns um ſo überzeugender dünkt, als ſie uns
mühelos zu theil wird und keinen Beweis und keine Rechen¬
ſchaft fordert. Wer hätte nicht ſchon ſolche Augenblicke
erlebt, in denen die Iſolirung der ſinnlichen Wahrnehmung
mit einer beſonderen Reizbarkeit des Gefühls zuſammen¬
traf und jene Stimmung erzeugte, in der man ſich der
Natur in viel umfaſſenderer und eindringlicherer Weiſe zu
bemächtigen meinte, als dies je im praktiſchen oder theoreti¬
ſchen Sinne gelungen war? Wer ſolchen Anſchauungsge¬
nuſſes fähig iſt, der wird, wo er ihn der Natur nur unter
beſonderen, ſeltenen Umſtänden verdanken kann, ſich dem
Reiche der Kunſt zuwenden, und hier eine reiche, ſich mühe¬
Fiedler, Urſprung. 7
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