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Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794.

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des menschlichen Geistes an sich in die Form des Be-
wusstseyns aufgenommen werden, so müsste sie schon
als solche bekannt seyn, sie müsste mithin in diese Form
schon aufgenommen seyn; und wir wären in einem
Zirkel eingeschlossen.

Diese Handlungsart überhaupt, soll nach dem obi-
gen durch eine reflektirende Abstraktion von allem, was
nicht sie ist, abgesondert werden. Diese Abstraktion ge-
schieht durch Freiheit, und der menschliche Geist wird in
ihr gar nicht durch blinden Zwang geleitet. Die ganze
Schwierigkeit ist also in der Frage enthalten: nach wel-
chen Regeln verfährt die Freiheit in jener Absonderung?
wie weiss der menschliche Geist, was er aufnehmen und
liegen lassen wolle?

Das kann er nun schlechterdings nicht wissen,
wofern nicht etwa dasjenige, was er erst zum Bewusst-
seyn erheben soll, schon dazu erhoben ist; welches sich
widerspricht. Also giebt es für dieses Geschäft gar kei-
ne Regel, und kann keine geben. Der menschliche
Geist macht mancherlei Versuche; er kommt durch
blindes Herumtappen zur Dämmerung, und geht erst
aus dieser zum hellen Tage über. Er wird Anfangs
durch dunkle Gefühle *) (deren Ursprung und Wirklich-
keit die Wissenschaftslehre darzulegen hat) geleitet; und
wir hätten noch heute keinen deutlichen Begriff, und
wir wären noch immer der Erdklos, der sich dem

Boden
*) Es erhellet daraus, dass der Philosoph der dunklen Gefühle
des Richtigen oder das Genie in keinem geringern Grade be-
dürfe, als etwa der Dichter oder der Künstler; nur in einer
andern Art. Der letztere bedarf des Schönheits- jener des Wahr-
heitssinnes, dergleichen es allerdings giebt.
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des menſchlichen Geiſtes an ſich in die Form des Be-
wuſstſeyns aufgenommen werden, ſo müſste ſie ſchon
als ſolche bekannt ſeyn, ſie müſste mithin in dieſe Form
ſchon aufgenommen ſeyn; und wir wären in einem
Zirkel eingeſchloſſen.

Dieſe Handlungsart überhaupt, ſoll nach dem obi-
gen durch eine reflektirende Abſtraktion von allem, was
nicht ſie iſt, abgeſondert werden. Dieſe Abſtraktion ge-
ſchieht durch Freiheit, und der menſchliche Geiſt wird in
ihr gar nicht durch blinden Zwang geleitet. Die ganze
Schwierigkeit iſt alſo in der Frage enthalten: nach wel-
chen Regeln verfährt die Freiheit in jener Abſonderung?
wie weiſs der menſchliche Geiſt, was er aufnehmen und
liegen laſſen wolle?

Das kann er nun ſchlechterdings nicht wiſſen,
wofern nicht etwa dasjenige, was er erſt zum Bewuſst-
ſeyn erheben ſoll, ſchon dazu erhoben iſt; welches ſich
widerſpricht. Alſo giebt es für dieſes Geſchäft gar kei-
ne Regel, und kann keine geben. Der menſchliche
Geiſt macht mancherlei Verſuche; er kommt durch
blindes Herumtappen zur Dämmerung, und geht erſt
aus dieſer zum hellen Tage über. Er wird Anfangs
durch dunkle Gefühle *) (deren Urſprung und Wirklich-
keit die Wiſſenſchaftslehre darzulegen hat) geleitet; und
wir hätten noch heute keinen deutlichen Begriff, und
wir wären noch immer der Erdklos, der ſich dem

Boden
*) Es erhellet daraus, daſs der Philoſoph der dunklen Gefühle
des Richtigen oder das Genie in keinem geringern Grade be-
dürfe, als etwa der Dichter oder der Künſtler; nur in einer
andern Art. Der letztere bedarf des Schönheits- jener des Wahr-
heitsſinnes, dergleichen es allerdings giebt.
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[53/0061] des menſchlichen Geiſtes an ſich in die Form des Be- wuſstſeyns aufgenommen werden, ſo müſste ſie ſchon als ſolche bekannt ſeyn, ſie müſste mithin in dieſe Form ſchon aufgenommen ſeyn; und wir wären in einem Zirkel eingeſchloſſen. Dieſe Handlungsart überhaupt, ſoll nach dem obi- gen durch eine reflektirende Abſtraktion von allem, was nicht ſie iſt, abgeſondert werden. Dieſe Abſtraktion ge- ſchieht durch Freiheit, und der menſchliche Geiſt wird in ihr gar nicht durch blinden Zwang geleitet. Die ganze Schwierigkeit iſt alſo in der Frage enthalten: nach wel- chen Regeln verfährt die Freiheit in jener Abſonderung? wie weiſs der menſchliche Geiſt, was er aufnehmen und liegen laſſen wolle? Das kann er nun ſchlechterdings nicht wiſſen, wofern nicht etwa dasjenige, was er erſt zum Bewuſst- ſeyn erheben ſoll, ſchon dazu erhoben iſt; welches ſich widerſpricht. Alſo giebt es für dieſes Geſchäft gar kei- ne Regel, und kann keine geben. Der menſchliche Geiſt macht mancherlei Verſuche; er kommt durch blindes Herumtappen zur Dämmerung, und geht erſt aus dieſer zum hellen Tage über. Er wird Anfangs durch dunkle Gefühle *) (deren Urſprung und Wirklich- keit die Wiſſenſchaftslehre darzulegen hat) geleitet; und wir hätten noch heute keinen deutlichen Begriff, und wir wären noch immer der Erdklos, der ſich dem Boden *) Es erhellet daraus, daſs der Philoſoph der dunklen Gefühle des Richtigen oder das Genie in keinem geringern Grade be- dürfe, als etwa der Dichter oder der Künſtler; nur in einer andern Art. Der letztere bedarf des Schönheits- jener des Wahr- heitsſinnes, dergleichen es allerdings giebt. D 3

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Zitationshilfe: Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_wissenschaftslehre_1794/61>, abgerufen am 24.11.2024.