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Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794.

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Aufgabe überhaupt, den Raum nach einer Regel zu be-
grenzen, oder die Construktion in demselben, ist Grund-
satz der Geometrie, und sie ist dadurch von der Wissen-
schaftslehre scharf abgeschnitten.

Durch die Wissenschaftslehre sind ein von den Ge-
setzen der blossen Vorstellung schlechthin unabhängiges
Nicht-Ich, und die Gesetze nach denen es beobachtet
werden soll und muss *), als nothwendig gegeben; aber
die Urtheilskraft behält dabei ihre völlige Freiheit, diese
Gesetze überhaupt anzuwenden oder nicht, oder bei
der Mannigfaltigkeit der Gesetze so wohl als der Gegen-
stände, welches Gesetz sie will, auf einen beliebigen Ge-
genstand anzuwenden, z. B. den menschlichen Körper
als rohe, oder organisirte, oder als animalisch belebte

Mate-
*) So sonderbar diess manchem Naturforscher vorkommen möge,
so wird es sich doch zu seiner Zeit zeigen, dass es sich streng
erweisen lässt: dass er selbst erst die Gesetze der Natur, die er
durch Beobachtung von ihr zu lernen glaubt, in sie hineinge-
legt habe, und dass sie sich, das kleinste, wie das grösste, der
Bau des geringfügigsten Grashalms, wie die Bewegung der
Himmelskörper, vor aller Beobachtung vorher aus dem Grund-
satze alles menschlichen Wissens ableiten lassen. Es ist wahr,
dass kein Naturgesetz und überhaupt kein Gesetz zum Bewusst-
seyn
kommt, wenn nicht ein Gegenstand gegeben wird, auf den
es angewandt werden kann; es ist wahr, dass nicht alle Ge-
genstände nothwendig, und nicht alle in dem gleichen Grade
damit übereinkommen müssen; es ist wahr, dass kein einziger
ganz und völlig mit ihnen übereinkommt, noch übereinkom-
men kann: aber eben darum ist es wahr, dass wir sie nicht
durch Beobachtung lernen, sondern sie aller Beobachtung zum
Grunde legen, und dass es nicht so wohl Gesetze für die von
uns unabhängige Natur, als Gesetze für uns selbst sind, wie
wir die Natur zu beobachten haben.

Aufgabe überhaupt, den Raum nach einer Regel zu be-
grenzen, oder die Conſtruktion in demſelben, iſt Grund-
ſatz der Geometrie, und ſie iſt dadurch von der Wiſſen-
ſchaftslehre ſcharf abgeſchnitten.

Durch die Wiſſenſchaftslehre ſind ein von den Ge-
ſetzen der bloſsen Vorſtellung ſchlechthin unabhängiges
Nicht-Ich, und die Geſetze nach denen es beobachtet
werden ſoll und muſs *), als nothwendig gegeben; aber
die Urtheilskraft behält dabei ihre völlige Freiheit, dieſe
Geſetze überhaupt anzuwenden oder nicht, oder bei
der Mannigfaltigkeit der Geſetze ſo wohl als der Gegen-
ſtände, welches Geſetz ſie will, auf einen beliebigen Ge-
genſtand anzuwenden, z. B. den menſchlichen Körper
als rohe, oder organiſirte, oder als animaliſch belebte

Mate-
*) So ſonderbar dieſs manchem Naturforſcher vorkommen möge,
ſo wird es ſich doch zu ſeiner Zeit zeigen, daſs es ſich ſtreng
erweiſen läſst: daſs er ſelbſt erſt die Geſetze der Natur, die er
durch Beobachtung von ihr zu lernen glaubt, in ſie hineinge-
legt habe, und daſs ſie ſich, das kleinſte, wie das gröſste, der
Bau des geringfügigſten Grashalms, wie die Bewegung der
Himmelskörper, vor aller Beobachtung vorher aus dem Grund-
ſatze alles menſchlichen Wiſſens ableiten laſſen. Es iſt wahr,
daſs kein Naturgeſetz und überhaupt kein Geſetz zum Bewuſst-
ſeyn
kommt, wenn nicht ein Gegenſtand gegeben wird, auf den
es angewandt werden kann; es iſt wahr, daſs nicht alle Ge-
genſtände nothwendig, und nicht alle in dem gleichen Grade
damit übereinkommen müſſen; es iſt wahr, daſs kein einziger
ganz und völlig mit ihnen übereinkommt, noch übereinkom-
men kann: aber eben darum iſt es wahr, daſs wir ſie nicht
durch Beobachtung lernen, ſondern ſie aller Beobachtung zum
Grunde legen, und daſs es nicht ſo wohl Geſetze für die von
uns unabhängige Natur, als Geſetze für uns ſelbſt ſind, wie
wir die Natur zu beobachten haben.
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[43/0051] Aufgabe überhaupt, den Raum nach einer Regel zu be- grenzen, oder die Conſtruktion in demſelben, iſt Grund- ſatz der Geometrie, und ſie iſt dadurch von der Wiſſen- ſchaftslehre ſcharf abgeſchnitten. Durch die Wiſſenſchaftslehre ſind ein von den Ge- ſetzen der bloſsen Vorſtellung ſchlechthin unabhängiges Nicht-Ich, und die Geſetze nach denen es beobachtet werden ſoll und muſs *), als nothwendig gegeben; aber die Urtheilskraft behält dabei ihre völlige Freiheit, dieſe Geſetze überhaupt anzuwenden oder nicht, oder bei der Mannigfaltigkeit der Geſetze ſo wohl als der Gegen- ſtände, welches Geſetz ſie will, auf einen beliebigen Ge- genſtand anzuwenden, z. B. den menſchlichen Körper als rohe, oder organiſirte, oder als animaliſch belebte Mate- *) So ſonderbar dieſs manchem Naturforſcher vorkommen möge, ſo wird es ſich doch zu ſeiner Zeit zeigen, daſs es ſich ſtreng erweiſen läſst: daſs er ſelbſt erſt die Geſetze der Natur, die er durch Beobachtung von ihr zu lernen glaubt, in ſie hineinge- legt habe, und daſs ſie ſich, das kleinſte, wie das gröſste, der Bau des geringfügigſten Grashalms, wie die Bewegung der Himmelskörper, vor aller Beobachtung vorher aus dem Grund- ſatze alles menſchlichen Wiſſens ableiten laſſen. Es iſt wahr, daſs kein Naturgeſetz und überhaupt kein Geſetz zum Bewuſst- ſeyn kommt, wenn nicht ein Gegenſtand gegeben wird, auf den es angewandt werden kann; es iſt wahr, daſs nicht alle Ge- genſtände nothwendig, und nicht alle in dem gleichen Grade damit übereinkommen müſſen; es iſt wahr, daſs kein einziger ganz und völlig mit ihnen übereinkommt, noch übereinkom- men kann: aber eben darum iſt es wahr, daſs wir ſie nicht durch Beobachtung lernen, ſondern ſie aller Beobachtung zum Grunde legen, und daſs es nicht ſo wohl Geſetze für die von uns unabhängige Natur, als Geſetze für uns ſelbſt ſind, wie wir die Natur zu beobachten haben.

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Zitationshilfe: Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_wissenschaftslehre_1794/51>, abgerufen am 24.11.2024.