Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794.

Bild:
<< vorherige Seite

niss der zweiten, die in ihrem Verstande mit keinem
Systeme zusammenhängt, Wissenschaft?

Ohne Zweifel darum, weil das erstere in aller sei-
ner schulgerechten Form doch nichts enthält, das man
wissen kann; und die letztere ohne alle schulgerechte
Form, etwas sagen, das sie wirklich wissen und wissen
können
. --

Das Wesen der Wissenschaft bestünde demnach in
der Beschaffenheit ihres Innhalts, dieser müsste wenig-
stens für den, der Wissenschaft haben soll, gewiss seyn;
es müsste etwas seyn das er wissen könnte: und die
systematische Form wäre der Wissenschaft blos zufällig;
sie wäre nicht der Zweck derselben, sondern blos etwa
das Mittel zum Zwecke.

Nemlich -- wenn etwa aus irgend einer Ursache
der menschliche Geist nur sehr wenig gewiss wissen,
alles andere aber nur meynen, muthmassen, ahnen,
willkührlich annehmen könnte, -- aber doch, gleich-
falls aus irgend einer Ursache, mit dieser engbeschränk-
ten oder unsichern Kenntniss sich nicht wohl begnügen
könnte, so würde ihm kein anderes Mittel übrig blei-
ben, dieselbe auszubreiten und zu sichern, als dass er
die ungewissen Kenntnisse mit den gewissen vergliche,
und aus der Gleichheit oder Ungleichheit der erstern
mit den letztern, auf die Gewissheit oder Ungewissheit
derselben folgerte. Wären sie einem gewissen Satze
gleich, so könnte er sicher annehmen, dass sie auch ge-
wiss seyen; wären sie ihm entgegengesetzt, so wüsste
er nunmehro, dass sie falsch wären, und er wäre sicher,
von ihnen nicht länger getäuscht zu werden. Er hätte,
wenn auch nicht Wahrheit, doch Befreyung vom Irr-
thum gewonnen. --


Ich

niſs der zweiten, die in ihrem Verſtande mit keinem
Syſteme zuſammenhängt, Wiſſenſchaft?

Ohne Zweifel darum, weil das erſtere in aller ſei-
ner ſchulgerechten Form doch nichts enthält, das man
wiſſen kann; und die letztere ohne alle ſchulgerechte
Form, etwas ſagen, das ſie wirklich wiſſen und wiſſen
können
. —

Das Weſen der Wiſſenſchaft beſtünde demnach in
der Beſchaffenheit ihres Innhalts, dieſer müſste wenig-
ſtens für den, der Wiſſenſchaft haben ſoll, gewiſs ſeyn;
es müſste etwas ſeyn das er wiſſen könnte: und die
ſyſtematiſche Form wäre der Wiſſenſchaft blos zufällig;
ſie wäre nicht der Zweck derſelben, ſondern blos etwa
das Mittel zum Zwecke.

Nemlich — wenn etwa aus irgend einer Urſache
der menſchliche Geiſt nur ſehr wenig gewiſs wiſſen,
alles andere aber nur meynen, muthmaſsen, ahnen,
willkührlich annehmen könnte, — aber doch, gleich-
falls aus irgend einer Urſache, mit dieſer engbeſchränk-
ten oder unſichern Kenntniſs ſich nicht wohl begnügen
könnte, ſo würde ihm kein anderes Mittel übrig blei-
ben, dieſelbe auszubreiten und zu ſichern, als daſs er
die ungewiſſen Kenntniſſe mit den gewiſſen vergliche,
und aus der Gleichheit oder Ungleichheit der erſtern
mit den letztern, auf die Gewiſsheit oder Ungewiſsheit
derſelben folgerte. Wären ſie einem gewiſſen Satze
gleich, ſo könnte er ſicher annehmen, daſs ſie auch ge-
wiſs ſeyen; wären ſie ihm entgegengeſetzt, ſo wüſste
er nunmehro, daſs ſie falſch wären, und er wäre ſicher,
von ihnen nicht länger getäuſcht zu werden. Er hätte,
wenn auch nicht Wahrheit, doch Befreyung vom Irr-
thum gewonnen. —


Ich
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0019" n="11"/>
ni&#x017F;s der zweiten, die in ihrem Ver&#x017F;tande mit keinem<lb/>
Sy&#x017F;teme zu&#x017F;ammenhängt, Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft?</p><lb/>
          <p>Ohne Zweifel darum, weil das er&#x017F;tere in aller &#x017F;ei-<lb/>
ner &#x017F;chulgerechten Form doch nichts enthält, das man<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en kann; und die letztere ohne alle &#x017F;chulgerechte<lb/>
Form, etwas &#x017F;agen, das &#x017F;ie wirklich <hi rendition="#i">wi&#x017F;&#x017F;en</hi> und <hi rendition="#i">wi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
können</hi>. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Das We&#x017F;en der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft be&#x017F;tünde demnach in<lb/>
der Be&#x017F;chaffenheit ihres Innhalts, die&#x017F;er mü&#x017F;ste wenig-<lb/>
&#x017F;tens für den, der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft haben &#x017F;oll, gewi&#x017F;s &#x017F;eyn;<lb/>
es mü&#x017F;ste etwas &#x017F;eyn das er wi&#x017F;&#x017F;en könnte: und die<lb/>
&#x017F;y&#x017F;temati&#x017F;che Form wäre der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft blos zufällig;<lb/>
&#x017F;ie wäre nicht der Zweck der&#x017F;elben, &#x017F;ondern blos etwa<lb/>
das Mittel zum Zwecke.</p><lb/>
          <p>Nemlich &#x2014; wenn etwa aus irgend einer Ur&#x017F;ache<lb/>
der men&#x017F;chliche Gei&#x017F;t nur &#x017F;ehr wenig gewi&#x017F;s wi&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
alles andere aber nur meynen, muthma&#x017F;sen, ahnen,<lb/>
willkührlich annehmen könnte, &#x2014; aber doch, gleich-<lb/>
falls aus irgend einer Ur&#x017F;ache, mit die&#x017F;er engbe&#x017F;chränk-<lb/>
ten oder un&#x017F;ichern Kenntni&#x017F;s &#x017F;ich nicht wohl begnügen<lb/>
könnte, &#x017F;o würde ihm kein anderes Mittel übrig blei-<lb/>
ben, die&#x017F;elbe auszubreiten und zu &#x017F;ichern, als da&#x017F;s er<lb/>
die ungewi&#x017F;&#x017F;en Kenntni&#x017F;&#x017F;e mit den gewi&#x017F;&#x017F;en vergliche,<lb/>
und aus der Gleichheit oder Ungleichheit der er&#x017F;tern<lb/>
mit den letztern, auf die Gewi&#x017F;sheit oder Ungewi&#x017F;sheit<lb/>
der&#x017F;elben folgerte. Wären &#x017F;ie einem <hi rendition="#i"><hi rendition="#g">gewi&#x017F;&#x017F;en</hi></hi> Satze<lb/>
gleich, &#x017F;o könnte er &#x017F;icher annehmen, da&#x017F;s &#x017F;ie auch ge-<lb/>
wi&#x017F;s &#x017F;eyen; wären &#x017F;ie ihm entgegenge&#x017F;etzt, &#x017F;o wü&#x017F;ste<lb/>
er nunmehro, da&#x017F;s &#x017F;ie fal&#x017F;ch wären, und er wäre &#x017F;icher,<lb/>
von ihnen nicht länger getäu&#x017F;cht zu werden. Er hätte,<lb/>
wenn auch nicht Wahrheit, doch Befreyung vom Irr-<lb/>
thum gewonnen. &#x2014;</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Ich</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[11/0019] niſs der zweiten, die in ihrem Verſtande mit keinem Syſteme zuſammenhängt, Wiſſenſchaft? Ohne Zweifel darum, weil das erſtere in aller ſei- ner ſchulgerechten Form doch nichts enthält, das man wiſſen kann; und die letztere ohne alle ſchulgerechte Form, etwas ſagen, das ſie wirklich wiſſen und wiſſen können. — Das Weſen der Wiſſenſchaft beſtünde demnach in der Beſchaffenheit ihres Innhalts, dieſer müſste wenig- ſtens für den, der Wiſſenſchaft haben ſoll, gewiſs ſeyn; es müſste etwas ſeyn das er wiſſen könnte: und die ſyſtematiſche Form wäre der Wiſſenſchaft blos zufällig; ſie wäre nicht der Zweck derſelben, ſondern blos etwa das Mittel zum Zwecke. Nemlich — wenn etwa aus irgend einer Urſache der menſchliche Geiſt nur ſehr wenig gewiſs wiſſen, alles andere aber nur meynen, muthmaſsen, ahnen, willkührlich annehmen könnte, — aber doch, gleich- falls aus irgend einer Urſache, mit dieſer engbeſchränk- ten oder unſichern Kenntniſs ſich nicht wohl begnügen könnte, ſo würde ihm kein anderes Mittel übrig blei- ben, dieſelbe auszubreiten und zu ſichern, als daſs er die ungewiſſen Kenntniſſe mit den gewiſſen vergliche, und aus der Gleichheit oder Ungleichheit der erſtern mit den letztern, auf die Gewiſsheit oder Ungewiſsheit derſelben folgerte. Wären ſie einem gewiſſen Satze gleich, ſo könnte er ſicher annehmen, daſs ſie auch ge- wiſs ſeyen; wären ſie ihm entgegengeſetzt, ſo wüſste er nunmehro, daſs ſie falſch wären, und er wäre ſicher, von ihnen nicht länger getäuſcht zu werden. Er hätte, wenn auch nicht Wahrheit, doch Befreyung vom Irr- thum gewonnen. — Ich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_wissenschaftslehre_1794
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_wissenschaftslehre_1794/19
Zitationshilfe: Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_wissenschaftslehre_1794/19>, abgerufen am 27.11.2024.