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Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation. Berlin, 1808.

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regiert werden, begeistern, und den Vorsitz
haben, und die treibende Kraft seyn bei allen
seinen Beschlüssen. Der Staat also wäre es,
auf welchen wir zuerst unsere erwartenden
Blicke zu richten hätten.

Wird dieser unsere Hoffnungen erfüllen?
Welches sind die Erwartungen, die wir, immer
wie sich versteht, auf keinen besondern Staat,
sondern auf ganz Deutschland sehend, nach
dem bisherigen von ihm fassen können.

Im neuern Europa ist die Erziehung ausge¬
gangen nicht eigentlich vom Staate, sondern
von derjenigen Gewalt, von der die Staaten
meistens auch die ihrige hatten, von dem himm¬
lischgeistigen Reiche der Kirche. Diese betrachtete
sich nicht sowohl als ein Bestandtheil des irdi¬
schen Gemein-Wesens, sondern vielmehr als
eine demselben ganz fremde Pflanzstatt aus dem
Himmel, die abgesandt sey, diesem auswärti¬
gen Staate allenthalben, wo sie Wurzel fassen
konnte, Bürger anzuwerben; ihre Erziehung
ging auf nichts anders, denn daß die Menschen
in der andern Welt keinesweges verdammt,
sondern seelig würden. Durch die Reforma¬
tion wurde diese kirchliche Gewalt, die übrigens

regiert werden, begeiſtern, und den Vorſitz
haben, und die treibende Kraft ſeyn bei allen
ſeinen Beſchluͤſſen. Der Staat alſo waͤre es,
auf welchen wir zuerſt unſere erwartenden
Blicke zu richten haͤtten.

Wird dieſer unſere Hoffnungen erfuͤllen?
Welches ſind die Erwartungen, die wir, immer
wie ſich verſteht, auf keinen beſondern Staat,
ſondern auf ganz Deutſchland ſehend, nach
dem bisherigen von ihm faſſen koͤnnen.

Im neuern Europa iſt die Erziehung ausge¬
gangen nicht eigentlich vom Staate, ſondern
von derjenigen Gewalt, von der die Staaten
meiſtens auch die ihrige hatten, von dem himm¬
liſchgeiſtigen Reiche der Kirche. Dieſe betrachtete
ſich nicht ſowohl als ein Beſtandtheil des irdi¬
ſchen Gemein-Weſens, ſondern vielmehr als
eine demſelben ganz fremde Pflanzſtatt aus dem
Himmel, die abgeſandt ſey, dieſem auswaͤrti¬
gen Staate allenthalben, wo ſie Wurzel faſſen
konnte, Buͤrger anzuwerben; ihre Erziehung
ging auf nichts anders, denn daß die Menſchen
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ſondern ſeelig wuͤrden. Durch die Reforma¬
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[345/0351] regiert werden, begeiſtern, und den Vorſitz haben, und die treibende Kraft ſeyn bei allen ſeinen Beſchluͤſſen. Der Staat alſo waͤre es, auf welchen wir zuerſt unſere erwartenden Blicke zu richten haͤtten. Wird dieſer unſere Hoffnungen erfuͤllen? Welches ſind die Erwartungen, die wir, immer wie ſich verſteht, auf keinen beſondern Staat, ſondern auf ganz Deutſchland ſehend, nach dem bisherigen von ihm faſſen koͤnnen. Im neuern Europa iſt die Erziehung ausge¬ gangen nicht eigentlich vom Staate, ſondern von derjenigen Gewalt, von der die Staaten meiſtens auch die ihrige hatten, von dem himm¬ liſchgeiſtigen Reiche der Kirche. Dieſe betrachtete ſich nicht ſowohl als ein Beſtandtheil des irdi¬ ſchen Gemein-Weſens, ſondern vielmehr als eine demſelben ganz fremde Pflanzſtatt aus dem Himmel, die abgeſandt ſey, dieſem auswaͤrti¬ gen Staate allenthalben, wo ſie Wurzel faſſen konnte, Buͤrger anzuwerben; ihre Erziehung ging auf nichts anders, denn daß die Menſchen in der andern Welt keinesweges verdammt, ſondern ſeelig wuͤrden. Durch die Reforma¬ tion wurde dieſe kirchliche Gewalt, die uͤbrigens

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Zitationshilfe: Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation. Berlin, 1808, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_reden_1808/351>, abgerufen am 25.11.2024.