Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation. Berlin, 1808.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

sie soll die ohne ihr Zuthun vorhandene Liebe
auf das Rechte leiten. Bis jezt ist in der Re¬
gel diese Unbefangenheit und diese kindliche
Gläubigkeit der Unmündigen an die höhere
Vollkommenheit der Erwachsenen zum Verder¬
ben derselben gebraucht worden; ihre Unschuld
gerade, und ihr natürlicher Glauben an uns,
machte es uns möglich, ihnen statt des Guten,
das sie innerlich wollten, unser Verderbniß, das
sie verabscheut haben würden, wenn sie es
zu erkennen vermocht hätten, einzupflanzen,
noch ehe sie Gutes, und Böses unterscheiden
konnten.

Dies ist eben die allergrößte Vergehung,
die unsrer Zeit zur Last fällt; und es wird hier¬
durch auch die täglich sich darbietende Erschei¬
nung erklärt, daß in der Regel der Mensch um
so schlechter, selbstsüchtiger, für alle guten Re¬
gungen erstorbener, und zu jedem rechten Werke
untauglicher wird, je mehrere Jahre er zählt,
und um je weiter daher er sich von den ersten
Tagen seiner Unschuld, die fürs erste noch im¬
mer in einigen Ahnungen des Guten leise nach¬
klingen, entfernt hat; es wird dadurch ferner
bewiesen, daß das gegenwärtige Geschlecht,

ſie ſoll die ohne ihr Zuthun vorhandene Liebe
auf das Rechte leiten. Bis jezt iſt in der Re¬
gel dieſe Unbefangenheit und dieſe kindliche
Glaͤubigkeit der Unmuͤndigen an die hoͤhere
Vollkommenheit der Erwachſenen zum Verder¬
ben derſelben gebraucht worden; ihre Unſchuld
gerade, und ihr natuͤrlicher Glauben an uns,
machte es uns moͤglich, ihnen ſtatt des Guten,
das ſie innerlich wollten, unſer Verderbniß, das
ſie verabſcheut haben wuͤrden, wenn ſie es
zu erkennen vermocht haͤtten, einzupflanzen,
noch ehe ſie Gutes, und Boͤſes unterſcheiden
konnten.

Dies iſt eben die allergroͤßte Vergehung,
die unſrer Zeit zur Laſt faͤllt; und es wird hier¬
durch auch die taͤglich ſich darbietende Erſchei¬
nung erklaͤrt, daß in der Regel der Menſch um
ſo ſchlechter, ſelbſtſuͤchtiger, fuͤr alle guten Re¬
gungen erſtorbener, und zu jedem rechten Werke
untauglicher wird, je mehrere Jahre er zaͤhlt,
und um je weiter daher er ſich von den erſten
Tagen ſeiner Unſchuld, die fuͤrs erſte noch im¬
mer in einigen Ahnungen des Guten leiſe nach¬
klingen, entfernt hat; es wird dadurch ferner
bewieſen, daß das gegenwaͤrtige Geſchlecht,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0335" n="329"/>
&#x017F;ie &#x017F;oll die ohne ihr Zuthun vorhandene Liebe<lb/>
auf das Rechte leiten. Bis jezt i&#x017F;t in der Re¬<lb/>
gel die&#x017F;e Unbefangenheit und die&#x017F;e kindliche<lb/>
Gla&#x0364;ubigkeit der Unmu&#x0364;ndigen an die ho&#x0364;here<lb/>
Vollkommenheit der Erwach&#x017F;enen zum Verder¬<lb/>
ben der&#x017F;elben gebraucht worden; ihre Un&#x017F;chuld<lb/>
gerade, und ihr natu&#x0364;rlicher Glauben an uns,<lb/>
machte es uns mo&#x0364;glich, ihnen &#x017F;tatt des Guten,<lb/>
das &#x017F;ie innerlich wollten, un&#x017F;er Verderbniß, das<lb/>
&#x017F;ie verab&#x017F;cheut haben wu&#x0364;rden, wenn &#x017F;ie es<lb/>
zu erkennen vermocht ha&#x0364;tten, einzupflanzen,<lb/>
noch ehe &#x017F;ie Gutes, und Bo&#x0364;&#x017F;es unter&#x017F;cheiden<lb/>
konnten.</p><lb/>
        <p>Dies i&#x017F;t eben die allergro&#x0364;ßte Vergehung,<lb/>
die un&#x017F;rer Zeit zur La&#x017F;t fa&#x0364;llt; und es wird hier¬<lb/>
durch auch die ta&#x0364;glich &#x017F;ich darbietende Er&#x017F;chei¬<lb/>
nung erkla&#x0364;rt, daß in der Regel der Men&#x017F;ch um<lb/>
&#x017F;o &#x017F;chlechter, &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;u&#x0364;chtiger, fu&#x0364;r alle guten Re¬<lb/>
gungen er&#x017F;torbener, und zu jedem rechten Werke<lb/>
untauglicher wird, je mehrere Jahre er za&#x0364;hlt,<lb/>
und um je weiter daher er &#x017F;ich von den er&#x017F;ten<lb/>
Tagen &#x017F;einer Un&#x017F;chuld, die fu&#x0364;rs er&#x017F;te noch im¬<lb/>
mer in einigen Ahnungen des Guten lei&#x017F;e nach¬<lb/>
klingen, entfernt hat; es wird dadurch ferner<lb/>
bewie&#x017F;en, daß das gegenwa&#x0364;rtige Ge&#x017F;chlecht,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[329/0335] ſie ſoll die ohne ihr Zuthun vorhandene Liebe auf das Rechte leiten. Bis jezt iſt in der Re¬ gel dieſe Unbefangenheit und dieſe kindliche Glaͤubigkeit der Unmuͤndigen an die hoͤhere Vollkommenheit der Erwachſenen zum Verder¬ ben derſelben gebraucht worden; ihre Unſchuld gerade, und ihr natuͤrlicher Glauben an uns, machte es uns moͤglich, ihnen ſtatt des Guten, das ſie innerlich wollten, unſer Verderbniß, das ſie verabſcheut haben wuͤrden, wenn ſie es zu erkennen vermocht haͤtten, einzupflanzen, noch ehe ſie Gutes, und Boͤſes unterſcheiden konnten. Dies iſt eben die allergroͤßte Vergehung, die unſrer Zeit zur Laſt faͤllt; und es wird hier¬ durch auch die taͤglich ſich darbietende Erſchei¬ nung erklaͤrt, daß in der Regel der Menſch um ſo ſchlechter, ſelbſtſuͤchtiger, fuͤr alle guten Re¬ gungen erſtorbener, und zu jedem rechten Werke untauglicher wird, je mehrere Jahre er zaͤhlt, und um je weiter daher er ſich von den erſten Tagen ſeiner Unſchuld, die fuͤrs erſte noch im¬ mer in einigen Ahnungen des Guten leiſe nach¬ klingen, entfernt hat; es wird dadurch ferner bewieſen, daß das gegenwaͤrtige Geſchlecht,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_reden_1808
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_reden_1808/335
Zitationshilfe: Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation. Berlin, 1808, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_reden_1808/335>, abgerufen am 22.11.2024.