den Christen sind psychologisch tief begründete Folgen ihrer religiösen Anschauung. Wie sollte dem nicht die Lust kommen, sich selbst oder Andere zu kreuzigen, der stets das Bild eines Gekreuzigten im Sinne hat? Wenigstens sind wir zu diesem Schlusse eben so gut berechtigt, als Augustin und andere Kir- chenväter zu dem Vorwurf gegen die heidnische Religion, daß die unzüchtigen religiösen Bilder die Heiden zur Unzucht auf- forderten.
Aber so sehr dem objectiven Gemüthe, dem Herzen des natürlichen oder selbstbewußten Menschen das Leiden wider- spricht, weil in ihm der Trieb zur Selbstthätigkeit, zur Kraft- äußerung der vorherrschende ist: so sehr entspricht dem sub- jectiven, nur einwärts gekehrten, weltscheuen, nur auf sich concentrirten Herzen, d. i. dem Gemüthe das Leiden. Leiden ist eine Selbstnegation, aber eine selbst sub- jective, dem Gemüthe wohlthätige -- auch ganz abgesehen davon, daß das christliche Leiden, selbst das Leiden des Mär- tyrerthums identisch ist mit der Hoffnung der himmli- schen Seligkeit*) -- die Anschauung eines leidenden Got- tes daher die höchste Selbstbejahung, die höchste Wol- lust des leidenden Herzens.
Gott leidet, heißt aber nichts andres als: Gott ist ein Herz. Das Herz ist die Quelle, der Inbegriff aller Lei- den. Ein Wesen ohne Leiden ist ein Wesen ohne Herz. Im Verstande sind wir selbstthätig; im Herzen leiden, d. i. empfin- den wir. Das Geheimniß des leidenden Gottes ist
*) S. z. B. I. Petri 4, 1. 13. Römer 8, 17. 18. II. Korinth. 4, 10. 17. Abstine ... ab omnibus seculi delectationibus, ut post hanc vitam in coelo laetari possis cum angelis. (de modo bene viv. Serm. 23. Unter den unächten Schriften des heil. Bernhard.)
5*
den Chriſten ſind pſychologiſch tief begründete Folgen ihrer religiöſen Anſchauung. Wie ſollte dem nicht die Luſt kommen, ſich ſelbſt oder Andere zu kreuzigen, der ſtets das Bild eines Gekreuzigten im Sinne hat? Wenigſtens ſind wir zu dieſem Schluſſe eben ſo gut berechtigt, als Auguſtin und andere Kir- chenväter zu dem Vorwurf gegen die heidniſche Religion, daß die unzüchtigen religiöſen Bilder die Heiden zur Unzucht auf- forderten.
Aber ſo ſehr dem objectiven Gemüthe, dem Herzen des natürlichen oder ſelbſtbewußten Menſchen das Leiden wider- ſpricht, weil in ihm der Trieb zur Selbſtthätigkeit, zur Kraft- äußerung der vorherrſchende iſt: ſo ſehr entſpricht dem ſub- jectiven, nur einwärts gekehrten, weltſcheuen, nur auf ſich concentrirten Herzen, d. i. dem Gemüthe das Leiden. Leiden iſt eine Selbſtnegation, aber eine ſelbſt ſub- jective, dem Gemüthe wohlthätige — auch ganz abgeſehen davon, daß das chriſtliche Leiden, ſelbſt das Leiden des Mär- tyrerthums identiſch iſt mit der Hoffnung der himmli- ſchen Seligkeit*) — die Anſchauung eines leidenden Got- tes daher die höchſte Selbſtbejahung, die höchſte Wol- luſt des leidenden Herzens.
Gott leidet, heißt aber nichts andres als: Gott iſt ein Herz. Das Herz iſt die Quelle, der Inbegriff aller Lei- den. Ein Weſen ohne Leiden iſt ein Weſen ohne Herz. Im Verſtande ſind wir ſelbſtthätig; im Herzen leiden, d. i. empfin- den wir. Das Geheimniß des leidenden Gottes iſt
*) S. z. B. I. Petri 4, 1. 13. Römer 8, 17. 18. II. Korinth. 4, 10. 17. Abstine … ab omnibus seculi delectationibus, ut post hanc vitam in coelo laetari possis cum angelis. (de modo bene viv. Serm. 23. Unter den unächten Schriften des heil. Bernhard.)
5*
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0085"n="67"/>
den Chriſten ſind pſychologiſch tief begründete Folgen ihrer<lb/>
religiöſen Anſchauung. Wie ſollte dem nicht die Luſt kommen,<lb/>ſich ſelbſt oder Andere zu kreuzigen, der ſtets das Bild eines<lb/>
Gekreuzigten im Sinne hat? Wenigſtens ſind wir zu dieſem<lb/>
Schluſſe eben ſo gut berechtigt, als Auguſtin und andere Kir-<lb/>
chenväter zu dem Vorwurf gegen die heidniſche Religion, daß<lb/>
die unzüchtigen religiöſen Bilder die Heiden zur Unzucht auf-<lb/>
forderten.</p><lb/><p>Aber ſo ſehr dem objectiven Gemüthe, dem Herzen des<lb/>
natürlichen oder ſelbſtbewußten Menſchen das Leiden wider-<lb/>ſpricht, weil in ihm der Trieb zur Selbſtthätigkeit, zur Kraft-<lb/>
äußerung der vorherrſchende iſt: ſo ſehr entſpricht dem <hirendition="#g">ſub-<lb/>
jectiven</hi>, nur <hirendition="#g">einwärts gekehrten, weltſcheuen, nur<lb/>
auf ſich concentrirten Herzen</hi>, d. i. <hirendition="#g">dem Gemüthe</hi> das<lb/>
Leiden. Leiden iſt eine Selbſtnegation, aber eine ſelbſt ſub-<lb/>
jective, dem Gemüthe wohlthätige — auch ganz abgeſehen<lb/>
davon, daß das chriſtliche Leiden, ſelbſt das Leiden des Mär-<lb/>
tyrerthums <hirendition="#g">identiſch iſt mit der Hoffnung der himmli-<lb/>ſchen Seligkeit</hi><noteplace="foot"n="*)">S. z. B. <hirendition="#aq">I.</hi> Petri 4, 1. 13. Römer 8, 17. 18. <hirendition="#aq">II.</hi> Korinth. 4, 10. 17.<lb/><hirendition="#aq">Abstine …<hirendition="#g">ab omnibus seculi delectationibus</hi>, ut post hanc<lb/>
vitam in <hirendition="#g">coelo laetari possis</hi> cum angelis. (de modo bene viv. Serm.</hi><lb/>
23. Unter den unächten Schriften des heil. Bernhard.)</note>— die Anſchauung eines leidenden Got-<lb/>
tes daher die höchſte <hirendition="#g">Selbſtbejahung, die höchſte Wol-<lb/>
luſt des leidenden Herzens</hi>.</p><lb/><p><hirendition="#g">Gott leidet</hi>, heißt aber nichts andres als: <hirendition="#g">Gott iſt<lb/>
ein Herz</hi>. Das Herz iſt die Quelle, der Inbegriff aller Lei-<lb/>
den. Ein Weſen ohne Leiden iſt ein Weſen ohne Herz. Im<lb/>
Verſtande ſind wir ſelbſtthätig; im Herzen leiden, d. i. empfin-<lb/>
den wir. <hirendition="#g">Das Geheimniß des leidenden Gottes iſt</hi><lb/><fwplace="bottom"type="sig">5*</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[67/0085]
den Chriſten ſind pſychologiſch tief begründete Folgen ihrer
religiöſen Anſchauung. Wie ſollte dem nicht die Luſt kommen,
ſich ſelbſt oder Andere zu kreuzigen, der ſtets das Bild eines
Gekreuzigten im Sinne hat? Wenigſtens ſind wir zu dieſem
Schluſſe eben ſo gut berechtigt, als Auguſtin und andere Kir-
chenväter zu dem Vorwurf gegen die heidniſche Religion, daß
die unzüchtigen religiöſen Bilder die Heiden zur Unzucht auf-
forderten.
Aber ſo ſehr dem objectiven Gemüthe, dem Herzen des
natürlichen oder ſelbſtbewußten Menſchen das Leiden wider-
ſpricht, weil in ihm der Trieb zur Selbſtthätigkeit, zur Kraft-
äußerung der vorherrſchende iſt: ſo ſehr entſpricht dem ſub-
jectiven, nur einwärts gekehrten, weltſcheuen, nur
auf ſich concentrirten Herzen, d. i. dem Gemüthe das
Leiden. Leiden iſt eine Selbſtnegation, aber eine ſelbſt ſub-
jective, dem Gemüthe wohlthätige — auch ganz abgeſehen
davon, daß das chriſtliche Leiden, ſelbſt das Leiden des Mär-
tyrerthums identiſch iſt mit der Hoffnung der himmli-
ſchen Seligkeit *) — die Anſchauung eines leidenden Got-
tes daher die höchſte Selbſtbejahung, die höchſte Wol-
luſt des leidenden Herzens.
Gott leidet, heißt aber nichts andres als: Gott iſt
ein Herz. Das Herz iſt die Quelle, der Inbegriff aller Lei-
den. Ein Weſen ohne Leiden iſt ein Weſen ohne Herz. Im
Verſtande ſind wir ſelbſtthätig; im Herzen leiden, d. i. empfin-
den wir. Das Geheimniß des leidenden Gottes iſt
*) S. z. B. I. Petri 4, 1. 13. Römer 8, 17. 18. II. Korinth. 4, 10. 17.
Abstine … ab omnibus seculi delectationibus, ut post hanc
vitam in coelo laetari possis cum angelis. (de modo bene viv. Serm.
23. Unter den unächten Schriften des heil. Bernhard.)
5*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/85>, abgerufen am 23.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.