Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.Was nämlich die Religion zum Prädicat macht, Das *) Die Religion spricht durch Exempel. Das Exempel ist das Gesetz
der Religion. Was Christus gethan, ist Gesetz. Christus hat gelitten für Andere, also sollen wir dasselbe thun..... Quae necessitas fuit ut sic exinaniret se, sic humiliaret se, sie abbreviaret se Dominus majestatis, nisi ut vos similiter faciatis? (Bernardus in Die nat. Domini.) Aber diese Wahrheit negirt die Eifersucht der Religion auf den Menschen, auf die Moral dadurch wieder, daß sie das Handeln und Leiden für Andere, für die Menschen nur zu einem Handeln und Leiden für Christus, für Gott und seine Ehre macht. Doch davon erst später. Was nämlich die Religion zum Prädicat macht, Das *) Die Religion ſpricht durch Exempel. Das Exempel iſt das Geſetz
der Religion. Was Chriſtus gethan, iſt Geſetz. Chriſtus hat gelitten für Andere, alſo ſollen wir daſſelbe thun..... Quae necessitas fuit ut sic exinaniret se, sic humiliaret se, sie abbreviaret se Dominus majestatis, nisi ut vos similiter faciatis? (Bernardus in Die nat. Domini.) Aber dieſe Wahrheit negirt die Eiferſucht der Religion auf den Menſchen, auf die Moral dadurch wieder, daß ſie das Handeln und Leiden für Andere, für die Menſchen nur zu einem Handeln und Leiden für Chriſtus, für Gott und ſeine Ehre macht. Doch davon erſt ſpäter. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0081" n="63"/> <p>Was nämlich die Religion zum <hi rendition="#g">Prädicat</hi> macht, Das<lb/> dürfen wir nur immer zum <hi rendition="#g">Subject</hi>, und, was ſie zum <hi rendition="#g">Sub-<lb/> ject</hi>, zum <hi rendition="#g">Prädicat</hi> machen, alſo die Orakelſprüche der Reli-<lb/> gion <hi rendition="#g">umkehren</hi>, als <hi rendition="#aq">contre-véritez</hi> auffaſſen, ſo haben wir<lb/> das Wahre. Gott leidet — Leiden iſt Prädicat — aber für<lb/> die Menſchen, für Andere, nicht für ſich. Was heißt das auf<lb/> Deutſch? nichts andres als: <hi rendition="#g">Leiden für Andere iſt gött-<lb/> lich</hi> <note place="foot" n="*)">Die Religion ſpricht durch Exempel. Das Exempel iſt das Geſetz<lb/> der Religion. Was Chriſtus gethan, iſt Geſetz. Chriſtus hat gelitten für<lb/> Andere, alſo ſollen wir daſſelbe thun..... <hi rendition="#aq">Quae necessitas fuit ut sic<lb/> exinaniret se, sic humiliaret se, sie abbreviaret se Dominus majestatis,<lb/> nisi ut <hi rendition="#g">vos similiter faciatis</hi>? (Bernardus in Die nat. Domini.)</hi><lb/> Aber dieſe Wahrheit negirt die Eiferſucht der Religion auf den Menſchen,<lb/> auf die Moral dadurch wieder, daß ſie das Handeln und Leiden für Andere,<lb/> für die Menſchen nur zu einem Handeln und Leiden für Chriſtus, für Gott<lb/> und ſeine Ehre macht. Doch davon erſt ſpäter.</note>; wer für Andere leidet, ſeine Seele läßt, handelt gött-<lb/> lich, iſt den Menſchen Gott. Aber leidende, ſich ſelbſt auf-<lb/> opfernde Liebe iſt das höchſte Weſen des Herzens. Chriſtus<lb/> alſo das <hi rendition="#g">ſich ſelbſt gegenſtändliche Herz</hi> — der Eindruck<lb/> und Inhalt ſeiner Leidensgeſchichte ein rein menſchlicher. Denn<lb/> daß Chriſtus zugleich Gott war, Gott im Sinne der Religion<lb/> oder Dogmatik, iſt eine vage, nichtige, phantaſtiſche Vorſtel-<lb/> lung. Der poſitive, reale Eindruck auf Kopf und Herz, <hi rendition="#g">der</hi><lb/> Eindruck, der allein den objectiven Inhalt in ſeiner <hi rendition="#g">Wahr-<lb/> heit</hi> ausdrückt, iſt: daß er freiwillig litt, daß er nicht zu leiden<lb/> brauchte, wenn er nicht hätte leiden wollen, daß er litt unver-<lb/> ſchuldet, daß er litt für Andere, litt aus freier Liebe. Aber<lb/> ſolches Leiden geht wohl über den gemeinen, aber nicht über<lb/> den Menſchen an ſich, über den wahren Menſchen. Denke ich<lb/> dagegen zugleich mit dieſem menſchlichen Leiden den ſuprana-<lb/> turaliſtiſchen religiöſen oder dogmatiſchen Inhalt, den leidenden<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [63/0081]
Was nämlich die Religion zum Prädicat macht, Das
dürfen wir nur immer zum Subject, und, was ſie zum Sub-
ject, zum Prädicat machen, alſo die Orakelſprüche der Reli-
gion umkehren, als contre-véritez auffaſſen, ſo haben wir
das Wahre. Gott leidet — Leiden iſt Prädicat — aber für
die Menſchen, für Andere, nicht für ſich. Was heißt das auf
Deutſch? nichts andres als: Leiden für Andere iſt gött-
lich *); wer für Andere leidet, ſeine Seele läßt, handelt gött-
lich, iſt den Menſchen Gott. Aber leidende, ſich ſelbſt auf-
opfernde Liebe iſt das höchſte Weſen des Herzens. Chriſtus
alſo das ſich ſelbſt gegenſtändliche Herz — der Eindruck
und Inhalt ſeiner Leidensgeſchichte ein rein menſchlicher. Denn
daß Chriſtus zugleich Gott war, Gott im Sinne der Religion
oder Dogmatik, iſt eine vage, nichtige, phantaſtiſche Vorſtel-
lung. Der poſitive, reale Eindruck auf Kopf und Herz, der
Eindruck, der allein den objectiven Inhalt in ſeiner Wahr-
heit ausdrückt, iſt: daß er freiwillig litt, daß er nicht zu leiden
brauchte, wenn er nicht hätte leiden wollen, daß er litt unver-
ſchuldet, daß er litt für Andere, litt aus freier Liebe. Aber
ſolches Leiden geht wohl über den gemeinen, aber nicht über
den Menſchen an ſich, über den wahren Menſchen. Denke ich
dagegen zugleich mit dieſem menſchlichen Leiden den ſuprana-
turaliſtiſchen religiöſen oder dogmatiſchen Inhalt, den leidenden
*) Die Religion ſpricht durch Exempel. Das Exempel iſt das Geſetz
der Religion. Was Chriſtus gethan, iſt Geſetz. Chriſtus hat gelitten für
Andere, alſo ſollen wir daſſelbe thun..... Quae necessitas fuit ut sic
exinaniret se, sic humiliaret se, sie abbreviaret se Dominus majestatis,
nisi ut vos similiter faciatis? (Bernardus in Die nat. Domini.)
Aber dieſe Wahrheit negirt die Eiferſucht der Religion auf den Menſchen,
auf die Moral dadurch wieder, daß ſie das Handeln und Leiden für Andere,
für die Menſchen nur zu einem Handeln und Leiden für Chriſtus, für Gott
und ſeine Ehre macht. Doch davon erſt ſpäter.
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