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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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Ewigkeit und Allgegenwart sind sinnliche Eigenschaften,
denn es wird in ihnen nicht die Existenz in der Zeit und im
Raume; es wird nur die ausschließliche Beschränkung auf eine
bestimmte Zeit, auf einen bestimmten Ort negirt. Eben
so ist die Allwissenheit eine sinnliche Eigenschaft, sinnliches
Wissen. Die Religion nimmt keinen Anstand, Gott selbst die
edleren Sinne beizulegen. Gott sieht und hört Alles. Aber
die göttliche Allwissenheit ist ein sinnliches Wissen, von
dem die Eigenschaft, die wesentliche Bestimmtheit des wirk-
lichen, sinnlichen Wissens negirt ist. Meine Sinne stellen
mir die sinnlichen Gegenstände nur außer und nach einan-
der
vor; aber Gott stellt alles Sinnliche auf einmal vor,
alles Räumliche auf unräumliche, alles Zeitliche auf unzeit-
liche, alles Sinnliche auf unsinnliche Weise*). Das heißt:
ich erweitere meinen sinnlichen Horizont durch die Phantasie;
ich vergegenwärtige mir in der confusen Vorstellung der All-
heit alle auch die örtlich abwesenden Dinge und setze nun diese
über den beschränkt sinnlichen Standpunkt mich erhebende, wohl-
thätig afficirende Vorstellung als eine göttliche Wesenheit. Ich
fühle als eine Schranke mein nur an den örtlichen Standpunkt, an
die sinnliche Erfahrung gebundnes Wissen; was ich als Schranke
fühle, hebe ich in der Phantasie auf, die meinen Gefühlen freien
Spielraum gewährt. Diese Negation durch die Phantasie ist
die Position der Allwissenheit als einer göttlichen Macht und
Wesenheit. Aber gleichwohl ist zwischen der Allwissenheit und

*) Scit itaque Deus, quanta sit multitudo pulicum, culi-
cum, muscarum et piscium
et quot nascantur, quotve moriantur,
sed non scit hoc per momenta singula, imo simul et semel omnia. Pe-
trus
L. I. I. dist. 39. c. 3.

Ewigkeit und Allgegenwart ſind ſinnliche Eigenſchaften,
denn es wird in ihnen nicht die Exiſtenz in der Zeit und im
Raume; es wird nur die ausſchließliche Beſchränkung auf eine
beſtimmte Zeit, auf einen beſtimmten Ort negirt. Eben
ſo iſt die Allwiſſenheit eine ſinnliche Eigenſchaft, ſinnliches
Wiſſen. Die Religion nimmt keinen Anſtand, Gott ſelbſt die
edleren Sinne beizulegen. Gott ſieht und hört Alles. Aber
die göttliche Allwiſſenheit iſt ein ſinnliches Wiſſen, von
dem die Eigenſchaft, die weſentliche Beſtimmtheit des wirk-
lichen, ſinnlichen Wiſſens negirt iſt. Meine Sinne ſtellen
mir die ſinnlichen Gegenſtände nur außer und nach einan-
der
vor; aber Gott ſtellt alles Sinnliche auf einmal vor,
alles Räumliche auf unräumliche, alles Zeitliche auf unzeit-
liche, alles Sinnliche auf unſinnliche Weiſe*). Das heißt:
ich erweitere meinen ſinnlichen Horizont durch die Phantaſie;
ich vergegenwärtige mir in der confuſen Vorſtellung der All-
heit alle auch die örtlich abweſenden Dinge und ſetze nun dieſe
über den beſchränkt ſinnlichen Standpunkt mich erhebende, wohl-
thätig afficirende Vorſtellung als eine göttliche Weſenheit. Ich
fühle als eine Schranke mein nur an den örtlichen Standpunkt, an
die ſinnliche Erfahrung gebundnes Wiſſen; was ich als Schranke
fühle, hebe ich in der Phantaſie auf, die meinen Gefühlen freien
Spielraum gewährt. Dieſe Negation durch die Phantaſie iſt
die Poſition der Allwiſſenheit als einer göttlichen Macht und
Weſenheit. Aber gleichwohl iſt zwiſchen der Allwiſſenheit und

*) Scit itaque Deus, quanta sit multitudo pulicum, culi-
cum, muscarum et piscium
et quot nascantur, quotve moriantur,
sed non scit hoc per momenta singula, imo simul et semel omnia. Pe-
trus
L. I. I. dist. 39. c. 3.
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[293/0311] Ewigkeit und Allgegenwart ſind ſinnliche Eigenſchaften, denn es wird in ihnen nicht die Exiſtenz in der Zeit und im Raume; es wird nur die ausſchließliche Beſchränkung auf eine beſtimmte Zeit, auf einen beſtimmten Ort negirt. Eben ſo iſt die Allwiſſenheit eine ſinnliche Eigenſchaft, ſinnliches Wiſſen. Die Religion nimmt keinen Anſtand, Gott ſelbſt die edleren Sinne beizulegen. Gott ſieht und hört Alles. Aber die göttliche Allwiſſenheit iſt ein ſinnliches Wiſſen, von dem die Eigenſchaft, die weſentliche Beſtimmtheit des wirk- lichen, ſinnlichen Wiſſens negirt iſt. Meine Sinne ſtellen mir die ſinnlichen Gegenſtände nur außer und nach einan- der vor; aber Gott ſtellt alles Sinnliche auf einmal vor, alles Räumliche auf unräumliche, alles Zeitliche auf unzeit- liche, alles Sinnliche auf unſinnliche Weiſe *). Das heißt: ich erweitere meinen ſinnlichen Horizont durch die Phantaſie; ich vergegenwärtige mir in der confuſen Vorſtellung der All- heit alle auch die örtlich abweſenden Dinge und ſetze nun dieſe über den beſchränkt ſinnlichen Standpunkt mich erhebende, wohl- thätig afficirende Vorſtellung als eine göttliche Weſenheit. Ich fühle als eine Schranke mein nur an den örtlichen Standpunkt, an die ſinnliche Erfahrung gebundnes Wiſſen; was ich als Schranke fühle, hebe ich in der Phantaſie auf, die meinen Gefühlen freien Spielraum gewährt. Dieſe Negation durch die Phantaſie iſt die Poſition der Allwiſſenheit als einer göttlichen Macht und Weſenheit. Aber gleichwohl iſt zwiſchen der Allwiſſenheit und *) Scit itaque Deus, quanta sit multitudo pulicum, culi- cum, muscarum et piscium et quot nascantur, quotve moriantur, sed non scit hoc per momenta singula, imo simul et semel omnia. Pe- trus L. I. I. dist. 39. c. 3.

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/311>, abgerufen am 24.11.2024.