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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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Unverstand und der Willkühr der Scribenten überlassen, warum
sollte er ihnen nicht seine Gedanken, um sie vor jeder Ent-
stellung zu bewahren, in die Feder dictiren? "Aber wenn der
Mensch ein bloßes Organ des heiligen Geistes wäre, so würde
ja damit die menschliche Freiheit aufgehoben*)!" O welch
ein erbärmlicher Grund! Ist denn die menschliche Freiheit
mehr werth als die göttliche Wahrheit? Oder besteht die mensch-
liche Freiheit nur in der Entstellung der göttlichen Wahrheit?

So nothwendig aber mit dem Glauben an eine bestimmte
historische Offenbarung als die absolute Wahrheit Aberglaube,
so nothwendig ist mit ihm die Sophistik verbunden. Die Bibel
widerspricht der Moral, widerspricht der Vernunft, widerspricht
sich selbst unzählige Male; aber sie ist das Wort Gottes, die
ewige Wahrheit, und "die Wahrheit kann und darf sich nicht
widersprechen**)." Wie kommt der Offenbarungsgläubige aus
diesem Widerspruch zwischen der Idee der Offenbarung als
göttlicher, harmonischer Wahrheit und der vermeintlichen wirk-
lichen Offenbarung heraus? Nur durch Selbsttäuschungen,
nur durch die albernsten Scheingründe, nur durch die schlech-
testen, wahrheitslosesten Sophismen. Die christliche So-

*) Sehr richtig bemerkten schon die Jansenisten gegen die Jesuiten:
Vouloir reconnoitre dans l'Ecriture quelque chose de la foiblesse et de
l'esprit naturel de l'homme, c'est donner la liberte a chacun d'en faire
le discernement et de rejetter ce qui lui plaira de l'Ecriture, comme
venant plautot de la foiblesse de l'homme que de l'esprit de Dieu. Bayle
Dict. Art. Adam (Jean) Rem. E.
**) Nec in scriptura divina fas sit sentire aliquid contra-
rietatis
. Petrus L. I. II. dist. II. c. I.
Gleiche Gedanken bei den Kir-
chenvätern. -- Zu bemerken ist noch, daß, wie der katholische Jesui-
tismus
hauptsächlich die Moral, so der protestantische Jesuitis-
mus
hauptsächlich die Bibel, die Exegese zum Tummelplatz seiner So-
phistik hat.

Unverſtand und der Willkühr der Scribenten überlaſſen, warum
ſollte er ihnen nicht ſeine Gedanken, um ſie vor jeder Ent-
ſtellung zu bewahren, in die Feder dictiren? „Aber wenn der
Menſch ein bloßes Organ des heiligen Geiſtes wäre, ſo würde
ja damit die menſchliche Freiheit aufgehoben*)!“ O welch
ein erbärmlicher Grund! Iſt denn die menſchliche Freiheit
mehr werth als die göttliche Wahrheit? Oder beſteht die menſch-
liche Freiheit nur in der Entſtellung der göttlichen Wahrheit?

So nothwendig aber mit dem Glauben an eine beſtimmte
hiſtoriſche Offenbarung als die abſolute Wahrheit Aberglaube,
ſo nothwendig iſt mit ihm die Sophiſtik verbunden. Die Bibel
widerſpricht der Moral, widerſpricht der Vernunft, widerſpricht
ſich ſelbſt unzählige Male; aber ſie iſt das Wort Gottes, die
ewige Wahrheit, und „die Wahrheit kann und darf ſich nicht
widerſprechen**).“ Wie kommt der Offenbarungsgläubige aus
dieſem Widerſpruch zwiſchen der Idee der Offenbarung als
göttlicher, harmoniſcher Wahrheit und der vermeintlichen wirk-
lichen Offenbarung heraus? Nur durch Selbſttäuſchungen,
nur durch die albernſten Scheingründe, nur durch die ſchlech-
teſten, wahrheitsloſeſten Sophismen. Die chriſtliche So-

*) Sehr richtig bemerkten ſchon die Janſeniſten gegen die Jeſuiten:
Vouloir reconnoitre dans l’Ecriture quelque chose de la foiblesse et de
l’esprit naturel de l’homme, c’est donner la liberté à chacun d’en faire
le discernement et de rejetter ce qui lui plaira de l’Ecriture, comme
venant plûtot de la foiblesse de l’homme que de l’esprit de Dieu. Bayle
Dict. Art. Adam (Jean) Rem. E.
**) Nec in scriptura divina fas sit sentire aliquid contra-
rietatis
. Petrus L. I. II. dist. II. c. I.
Gleiche Gedanken bei den Kir-
chenvätern. — Zu bemerken iſt noch, daß, wie der katholiſche Jeſui-
tismus
hauptſächlich die Moral, ſo der proteſtantiſche Jeſuitis-
mus
hauptſächlich die Bibel, die Exegeſe zum Tummelplatz ſeiner So-
phiſtik hat.
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[288/0306] Unverſtand und der Willkühr der Scribenten überlaſſen, warum ſollte er ihnen nicht ſeine Gedanken, um ſie vor jeder Ent- ſtellung zu bewahren, in die Feder dictiren? „Aber wenn der Menſch ein bloßes Organ des heiligen Geiſtes wäre, ſo würde ja damit die menſchliche Freiheit aufgehoben *)!“ O welch ein erbärmlicher Grund! Iſt denn die menſchliche Freiheit mehr werth als die göttliche Wahrheit? Oder beſteht die menſch- liche Freiheit nur in der Entſtellung der göttlichen Wahrheit? So nothwendig aber mit dem Glauben an eine beſtimmte hiſtoriſche Offenbarung als die abſolute Wahrheit Aberglaube, ſo nothwendig iſt mit ihm die Sophiſtik verbunden. Die Bibel widerſpricht der Moral, widerſpricht der Vernunft, widerſpricht ſich ſelbſt unzählige Male; aber ſie iſt das Wort Gottes, die ewige Wahrheit, und „die Wahrheit kann und darf ſich nicht widerſprechen **).“ Wie kommt der Offenbarungsgläubige aus dieſem Widerſpruch zwiſchen der Idee der Offenbarung als göttlicher, harmoniſcher Wahrheit und der vermeintlichen wirk- lichen Offenbarung heraus? Nur durch Selbſttäuſchungen, nur durch die albernſten Scheingründe, nur durch die ſchlech- teſten, wahrheitsloſeſten Sophismen. Die chriſtliche So- *) Sehr richtig bemerkten ſchon die Janſeniſten gegen die Jeſuiten: Vouloir reconnoitre dans l’Ecriture quelque chose de la foiblesse et de l’esprit naturel de l’homme, c’est donner la liberté à chacun d’en faire le discernement et de rejetter ce qui lui plaira de l’Ecriture, comme venant plûtot de la foiblesse de l’homme que de l’esprit de Dieu. Bayle Dict. Art. Adam (Jean) Rem. E. **) Nec in scriptura divina fas sit sentire aliquid contra- rietatis. Petrus L. I. II. dist. II. c. I. Gleiche Gedanken bei den Kir- chenvätern. — Zu bemerken iſt noch, daß, wie der katholiſche Jeſui- tismus hauptſächlich die Moral, ſo der proteſtantiſche Jeſuitis- mus hauptſächlich die Bibel, die Exegeſe zum Tummelplatz ſeiner So- phiſtik hat.

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/306>, abgerufen am 24.11.2024.