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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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vergiftet, ja tödtet auch den göttlichsten Sinn im Menschen --
den Wahrheitssinn, das Wahrheitsgefühl. Die Offen-
barung Gottes ist eine bestimmte, zeitliche Offenbarung: Gott
hat sich geoffenbart ein für alle Mal anno so und so viel, und
zwar nicht dem ewigen Menschen, den Menschen aller Zeiten
und Orte, der Vernunft, der Gattung, sondern bestimmten,
beschränkten Individuen. Als eine örtlich und zeitlich be-
stimmte muß die Offenbarung schriftlich fixirt werden, damit
auch Andern der Genuß derselben zu Gute komme. Der Glaube
an die Offenbarung ist daher zugleich, wenigstens für Spätere,
der Glaube an eine schriftliche Offenbarung; die nothwen-
dige
Folge und Wirkung aber eines Glaubens, in welchem
ein historisches, ein nothwendig unter allen Bedingungen
der Zeitlichkeit und Endlichkeit
verfaßtes Buch die Be-
deutung eines ewigen, absolut, allgemein gültigen Wortes
hat -- Aberglaube und Sophistik.

Der Glaube an eine schriftliche Offenbarung ist nämlich
nur da noch ein wirklicher, wahrer, ungeheuchelter und
insofern auch respectabler Glaube, wo geglaubt wird, daß
Alles, was in der heiligen Schrift steht, bedeutungsvoll,
wahr, heilig, göttlich ist. Wo dagegen unterschieden wird
zwischen Menschlichem und Göttlichen, relativ und absolut
Gültigem, Historischem und Ewigem, wo nicht Alles ohne
Unterschied, schlechterdings unbedingt wahr ist, was in der
heiligen Schrift steht; da wird das Urtheil des Unglau-
bens
, daß die Bibel kein göttliches Buch ist, schon in die
Bibel hineingetragen, da wird ihr, indirect wenigstens, d. h.
auf eine verschlagne, unredliche Weise der Charakter einer
göttlichen Offenbarung abgesprochen. Einheit, Unbedingtheit,
Ausnahmslosigkeit, unmittelbare Zuverlässigkeit ist allein

vergiftet, ja tödtet auch den göttlichſten Sinn im Menſchen —
den Wahrheitsſinn, das Wahrheitsgefühl. Die Offen-
barung Gottes iſt eine beſtimmte, zeitliche Offenbarung: Gott
hat ſich geoffenbart ein für alle Mal anno ſo und ſo viel, und
zwar nicht dem ewigen Menſchen, den Menſchen aller Zeiten
und Orte, der Vernunft, der Gattung, ſondern beſtimmten,
beſchränkten Individuen. Als eine örtlich und zeitlich be-
ſtimmte muß die Offenbarung ſchriftlich fixirt werden, damit
auch Andern der Genuß derſelben zu Gute komme. Der Glaube
an die Offenbarung iſt daher zugleich, wenigſtens für Spätere,
der Glaube an eine ſchriftliche Offenbarung; die nothwen-
dige
Folge und Wirkung aber eines Glaubens, in welchem
ein hiſtoriſches, ein nothwendig unter allen Bedingungen
der Zeitlichkeit und Endlichkeit
verfaßtes Buch die Be-
deutung eines ewigen, abſolut, allgemein gültigen Wortes
hat — Aberglaube und Sophiſtik.

Der Glaube an eine ſchriftliche Offenbarung iſt nämlich
nur da noch ein wirklicher, wahrer, ungeheuchelter und
inſofern auch reſpectabler Glaube, wo geglaubt wird, daß
Alles, was in der heiligen Schrift ſteht, bedeutungsvoll,
wahr, heilig, göttlich iſt. Wo dagegen unterſchieden wird
zwiſchen Menſchlichem und Göttlichen, relativ und abſolut
Gültigem, Hiſtoriſchem und Ewigem, wo nicht Alles ohne
Unterſchied, ſchlechterdings unbedingt wahr iſt, was in der
heiligen Schrift ſteht; da wird das Urtheil des Unglau-
bens
, daß die Bibel kein göttliches Buch iſt, ſchon in die
Bibel hineingetragen, da wird ihr, indirect wenigſtens, d. h.
auf eine verſchlagne, unredliche Weiſe der Charakter einer
göttlichen Offenbarung abgeſprochen. Einheit, Unbedingtheit,
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[286/0304] vergiftet, ja tödtet auch den göttlichſten Sinn im Menſchen — den Wahrheitsſinn, das Wahrheitsgefühl. Die Offen- barung Gottes iſt eine beſtimmte, zeitliche Offenbarung: Gott hat ſich geoffenbart ein für alle Mal anno ſo und ſo viel, und zwar nicht dem ewigen Menſchen, den Menſchen aller Zeiten und Orte, der Vernunft, der Gattung, ſondern beſtimmten, beſchränkten Individuen. Als eine örtlich und zeitlich be- ſtimmte muß die Offenbarung ſchriftlich fixirt werden, damit auch Andern der Genuß derſelben zu Gute komme. Der Glaube an die Offenbarung iſt daher zugleich, wenigſtens für Spätere, der Glaube an eine ſchriftliche Offenbarung; die nothwen- dige Folge und Wirkung aber eines Glaubens, in welchem ein hiſtoriſches, ein nothwendig unter allen Bedingungen der Zeitlichkeit und Endlichkeit verfaßtes Buch die Be- deutung eines ewigen, abſolut, allgemein gültigen Wortes hat — Aberglaube und Sophiſtik. Der Glaube an eine ſchriftliche Offenbarung iſt nämlich nur da noch ein wirklicher, wahrer, ungeheuchelter und inſofern auch reſpectabler Glaube, wo geglaubt wird, daß Alles, was in der heiligen Schrift ſteht, bedeutungsvoll, wahr, heilig, göttlich iſt. Wo dagegen unterſchieden wird zwiſchen Menſchlichem und Göttlichen, relativ und abſolut Gültigem, Hiſtoriſchem und Ewigem, wo nicht Alles ohne Unterſchied, ſchlechterdings unbedingt wahr iſt, was in der heiligen Schrift ſteht; da wird das Urtheil des Unglau- bens, daß die Bibel kein göttliches Buch iſt, ſchon in die Bibel hineingetragen, da wird ihr, indirect wenigſtens, d. h. auf eine verſchlagne, unredliche Weiſe der Charakter einer göttlichen Offenbarung abgeſprochen. Einheit, Unbedingtheit, Ausnahmsloſigkeit, unmittelbare Zuverläſſigkeit iſt allein

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/304>, abgerufen am 28.11.2024.