viduum -- hierin besteht sein Unterschied von dem thieri- schen -- sich als beschränkt fühlen und erkennen; aber es kann sich seiner Schranken, seiner Endlichkeit nur bewußt werden, weil ihm die Vollkommenheit, die Unendlichkeit der Gattung Gegenstand ist, sei es nun als Gegenstand des Gefühls, oder des Gewissens, oder des denkenden Bewußtseins. Macht es gleichwohl seine Schranken zu Schranken der Gattung, so beruht dieß auf der Täuschung, daß es sich mit der Gat- tung unmittelbar identificirt -- eine Täuschung, die mit der Bequemlichkeitsliebe, Trägheit, Eitelkeit und Selbstsucht des Individuums aufs innigste zusammenhängt. Eine Schranke nämlich, die ich blos als meine Schranke weiß, demüthigt, beschämt und beunruhigt mich. Um mich daher von die- sem Schamgefühl, von dieser Unruhe zu befreien, mache ich die Schranken meiner Individualität zu Schranken des menschlichen Wesens selbst. Was mir unbegreiflich, ist auch den Andern unbegreiflich; was soll ich mich weiter kümmern? es ist ja nicht meine Schuld; es liegt nicht an mei- nem Verstande; es liegt am Verstande der Gattung selbst. Aber es ist Wahn, lächerlicher und zugleich frevelhafter Wahn, das, was die Natur des Menschen constituirt, das Wesen der Gattung, welches das absolute Wesen des Individuums ist, als endlich, als beschränkt zu bestimmen. Jedes Wesen ist sich selbst genug. Kein Wesen kann sich d. h. seine Wesenheit negiren; kein Wesen ist sich selbst ein beschränktes. Jedes Wesen ist vielmehr in sich und für sich unendlich. Jede Schranke eines Wesens existirt nur für ein andres Wesen außer und über ihm. Das Leben der Ephemeren ist außerordentlich kurz im Vergleich zu länger lebenden Thie- ren; aber gleichwohl ist für sie dieses kurze Leben so lang, als
viduum — hierin beſteht ſein Unterſchied von dem thieri- ſchen — ſich als beſchränkt fühlen und erkennen; aber es kann ſich ſeiner Schranken, ſeiner Endlichkeit nur bewußt werden, weil ihm die Vollkommenheit, die Unendlichkeit der Gattung Gegenſtand iſt, ſei es nun als Gegenſtand des Gefühls, oder des Gewiſſens, oder des denkenden Bewußtſeins. Macht es gleichwohl ſeine Schranken zu Schranken der Gattung, ſo beruht dieß auf der Täuſchung, daß es ſich mit der Gat- tung unmittelbar identificirt — eine Täuſchung, die mit der Bequemlichkeitsliebe, Trägheit, Eitelkeit und Selbſtſucht des Individuums aufs innigſte zuſammenhängt. Eine Schranke nämlich, die ich blos als meine Schranke weiß, demüthigt, beſchämt und beunruhigt mich. Um mich daher von die- ſem Schamgefühl, von dieſer Unruhe zu befreien, mache ich die Schranken meiner Individualität zu Schranken des menſchlichen Weſens ſelbſt. Was mir unbegreiflich, iſt auch den Andern unbegreiflich; was ſoll ich mich weiter kümmern? es iſt ja nicht meine Schuld; es liegt nicht an mei- nem Verſtande; es liegt am Verſtande der Gattung ſelbſt. Aber es iſt Wahn, lächerlicher und zugleich frevelhafter Wahn, das, was die Natur des Menſchen conſtituirt, das Weſen der Gattung, welches das abſolute Weſen des Individuums iſt, als endlich, als beſchränkt zu beſtimmen. Jedes Weſen iſt ſich ſelbſt genug. Kein Weſen kann ſich d. h. ſeine Weſenheit negiren; kein Weſen iſt ſich ſelbſt ein beſchränktes. Jedes Weſen iſt vielmehr in ſich und für ſich unendlich. Jede Schranke eines Weſens exiſtirt nur für ein andres Weſen außer und über ihm. Das Leben der Ephemeren iſt außerordentlich kurz im Vergleich zu länger lebenden Thie- ren; aber gleichwohl iſt für ſie dieſes kurze Leben ſo lang, als
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viduum — hierin beſteht ſein Unterſchied von dem thieri-
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weil ihm die Vollkommenheit, die Unendlichkeit der Gattung
Gegenſtand iſt, ſei es nun als Gegenſtand des Gefühls, oder
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gleichwohl ſeine Schranken zu Schranken der Gattung,
ſo beruht dieß auf der Täuſchung, daß es ſich mit der Gat-
tung unmittelbar identificirt — eine Täuſchung, die mit der
Bequemlichkeitsliebe, Trägheit, Eitelkeit und Selbſtſucht des
Individuums aufs innigſte zuſammenhängt. Eine Schranke
nämlich, die ich blos als meine Schranke weiß, demüthigt,
beſchämt und beunruhigt mich. Um mich daher von die-
ſem Schamgefühl, von dieſer Unruhe zu befreien, mache ich
die Schranken meiner Individualität zu Schranken
des menſchlichen Weſens ſelbſt. Was mir unbegreiflich,
iſt auch den Andern unbegreiflich; was ſoll ich mich weiter
kümmern? es iſt ja nicht meine Schuld; es liegt nicht an mei-
nem Verſtande; es liegt am Verſtande der Gattung ſelbſt.
Aber es iſt Wahn, lächerlicher und zugleich frevelhafter Wahn,
das, was die Natur des Menſchen conſtituirt, das Weſen
der Gattung, welches das abſolute Weſen des Individuums
iſt, als endlich, als beſchränkt zu beſtimmen. Jedes Weſen
iſt ſich ſelbſt genug. Kein Weſen kann ſich d. h. ſeine
Weſenheit negiren; kein Weſen iſt ſich ſelbſt ein beſchränktes.
Jedes Weſen iſt vielmehr in ſich und für ſich unendlich.
Jede Schranke eines Weſens exiſtirt nur für ein andres
Weſen außer und über ihm. Das Leben der Ephemeren iſt
außerordentlich kurz im Vergleich zu länger lebenden Thie-
ren; aber gleichwohl iſt für ſie dieſes kurze Leben ſo lang, als
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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/28>, abgerufen am 24.11.2024.
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